W I N T E R Z A U B E R

Autor: Ivy

 

Schnee fiel vom dunklen, schwarzen Himmel. Die Uhr unten im Wohnzimmer tickte laut, durchbrach die Stille dieses Abends. Jenen Abends im Dezember, als Isa zum ersten Mal begriff, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als man zu glauben vermochte.

 

Fünf Jahre alt war sie damals gewesen und kaum größer als der riesige Teddybär im Kaufhaus, den sie und Ben mit ihrer Mom vor einiger Zeit gesehen hatten. Ein schöner Bär mit großen, braunen Augen und ganz weichem Fell. Isa hatte gedacht, er lächle, aber sicher war das nur Einbildung ihrer kindlichen Fantasie gewesen. Jetzt jedoch stand sie nicht in einem überfüllten, viel zu warmen Laden. Nein. Jetzt saß sie am Fenster, sah nach draußen und war sich überhaupt nicht sicher, was sie von dem halten sollte, was sie sah.

Unsicher neigte sie den Kopf, ihre giftgrünen Augen reflektierten das Licht der Laternen etwas und vielleicht auch das, was sie zu sehen glaubte. Da war jemand … Inmitten des verschneiten Vorgartens. Oder etwas …. Die junge Saintemillion war sich dessen überhaupt nicht sicher. Ganz und gar nicht. Aber ihren Bruder wecken … das wollte sie auch nicht.

 

Es war bereits nach elf und schon lange hätten ihre Mom und ihr Dad zurück sein sollen. Doch … sie waren es nicht. Und nunmehr sah sich Isa mit einer Situation konfrontiert, die es so in ihrem bisherigen Leben nicht gegeben hatte. Die fünf-Jährige rutschte von der Fensterbank, riskierte noch einen Blick nach draußen, ehe sie in den Flur tapste, zu ihrem Mantel griff und in ihre Stiefel schlüpfte. Sie würde sicher Ärger bekommen, weil sie einfach so des Nachts hinaus ging, aber … Isa ließ nicht los, was sie gesehen hatte. Mit blassen, kleinen Fingern griff sie nach dem Türknauf, öffnete die Tür und schob einen anderen Schuh, zwischen Rahmen und Tür, trat auf die Veranda, atmete tief durch.

Kalt war es, ihr Atem bildete Wölkchen und einige Schneeflocken, die vom Himmel fielen, verfingen sich in ihrem braunem Haar, dass ihr teils ins Gesicht hing. Mit einem weiteren Atemzug tat sie den ersten Schritt. Leise knarrte das Holz der Veranda unter ihren Sohlen, während der Laut selbst von der Nacht verschlungen wurde, ungehört verhallte. Wie eine eigene, kleine Welt erschien der Garten des Hauses, in den Isa ganz leise schlich, kaum Geräusche verursachte und nur das Knirschen des Schnees unter ihren Schuhen erklang. Fern flackerte das Licht der Laternen auf den Straßen, doch die weiße Ebene, die sich ihr eröffnete blieb unberührt in der der Dunkelheit. Und nur … es stand dort.

 

Was es da tat. Warum es da war … Das wusste Isa nicht, die in einiger Entfernung stehen blieb, zögerte. Sie erkannte nicht wirklich, was vor ihr war. Und nur, wenn sie ganz leicht den Kopf neigte, wurde es klarer.

„Hallo ...“ Auch dieser Laut wurde von der Finsternis schier verschlungen, verhallend in der Nacht. Ungehört. Doch scheinbar … nicht zur Gänze. Es … bewegte sich. Leicht flackerte das Licht der Laterne auf der Straße … und fiel schließlich aus. Eine, nach der anderen. Bis Isa in gänzlicher Dunkelheit stand und nur ein schwaches Flimmer vor ihr erkennbar wurde. Aus dem Es wurde ein glimmender Nebel. Und aus glimmendem Nebel schließlich eine Form. Fasziniert beobachtete die junge Saintemillion die Wandlung, bis schließlich aus Nebel, Glanz und Stille etwas trat.

Es dauerte, doch Isa konnte warten. Schwankend zwischen Neugier und Furcht stand sie da, das Schauspiel betrachtend. Die Kälte nicht mehr verspürend, kam die Fünfjährige noch einen Schritt dem Geschehen näher, als sich plötzlich eine Nase in ihr Blickfeld schob, so durchscheinend wie der Nebel. Eine ziemlich große Nase, die zu einem länglichen Gesicht gehörte. Große Augen sahen sie an. Ein leises Schnauben ertönte. Was da gerade in ihrem Garten erschien … war ein ...Isa gluckste. Ein Hirsch … oder so. Es hatte ein Geweih. Und vier Hufe. Und es sah so aus wie aus den Büchern ihres Bruder. Diese Bücher über Natur und Tiere und so etwas.

 

Aber was machte er hier? Lebte er nicht im Wald? Und warum war er so blass? Ob er krank war? Isa verspürte keinerlei Furcht mehr, streckte die Hand aus. Keine Wölkchen hingen vor der Nase des Hirsches und er hinterließ keine Spuren im Schnee. Ob sie träumte? Nein. Isa konnte die Kälte in ihre Wangen kneifend spüren. Vorsichtig streckte sie die Hand aus. Das Tier vor ihr senkte den Kopf, kam ihr ein Stück entgegen. Wie hübsch er war. Beinahe konnte Isa ihn berühren, fast das Fell spüren. Beinahe ….

 

„Isa! Du sollst doch nachts nicht raus!“ Erschrocken drehte sich die Angesprochene um, sah Ben im Türrahmen der Veranda stehen, sie böse ansehend.

„Komm sofort rein! Nicht, dass du krank wirst.“ Das Mädchen blinzelte, schwieg. Sah über ihre Schulter. Er war weg. Der Hirsch war weg. Isa sah auf die Stelle, wo er gestanden hatte, während ihr Bruder langsam ungeduldig wurde, sie erneut rief. Keine Fußspuren. Gar nichts. Aber sie hatte sich ihn nicht eingebildet …Da war sich Isa sicher.

Vielleicht … war es der Zauber der kommenden Weihnacht. Unmöglich … war schließlich nichts.