Das Leiden des


S I R   D O R I A N   W I L L O W   L A N C H E S T E R

von Ivy und Larry

 

 

 

Ich habe sie mein ganzes Leben lang geliebt. Mein ganzes, kurzes Leben lang liebte ich Vesper.

 

***

 

Sie schrie, Angst erfüllte ihre Seele, als Ginger sie die Straßen der Stadt entlang zerrte, über denen Nebel und die Finsternis der aufkeimenden Nacht lag.

„Ich hab das blöde Geld nicht gestohlen!“ fauchte das junge Mädchen, welches grob am Arm Richtung der Themse gezogen wurde.

„Still …“ knurrte Ginger, schmiss das Kind über seine Schultern, das weiter schrie und zeterte. Ihn zu kratzen und beißen versuchte und doch kläglich in seiner Gegenwehr scheiterte. Braunes Haar, hing dem Mädchen über das blasse Gesicht. Graue Augen funkelten trotzig, wütend, unter den vorderen Strähnen hervor. Anders als der protzige Mann, der sie trug, wirkte die Brünette wie ein Strich in der Landschaft. Dünn. Ausgehungert. Wie eines von vielen Straßenkindern. Dreckig. Verwahrlost. Und von niemandem vermisst. Erneut schrie sie, vergrub die Nägel wie eine buckelnde Katze in der Schulter des Mannes, der auf den Namen Ginger hörte, fauchte beinahe.

„Jetzt reicht´s mir aber!“

Er ließ sie in den Schmutz der Gasse fallen, packte ihre Handgelenk, fesselte diese auf dem Rücken.

„Ich hab das blöde Geld nicht gestohlen!“ schrie sie erneut. „Ich hab es nicht!“

Ginger brummte. „Kannste den Fischen in der Themse erzählen.“

Damit schulterte er das zappelnde Bündel erneut, setzte seinen Weg fort. Es war bereits nach zehn, fern ertönte die Glocke im Tower und eine einsame Kutsche ratterte auf der Hauptstraße entlang, die Ginger zu passieren pflegte. Aus den Schatten trat der Hüne von Mann, auf die Brücke, unter der der Fluss wie flüssige Dunkelheit entlang rann. Niemand war mehr zu sehen. Nur sachter Nebel und die Kälte der Herbstnacht stiegen auf.

„Ich war es nicht, verdammt! Lass mich runter, Ginger! Ich habe …!“

„Mir egal. Der Boss sagt, du sollst bei den Fischen schwimmen … Also schwimmst du bei den Fischen.“ Mit diesen Worten warf Ginger sein Paket ab, das mit einem Platschen ins Wasser fiel …

 

 

Kalt schlug das Wasser über ihr zusammen. Kalt wie die Panik in ihrem Inneren. Stechend wie die Angst, die sie empfand. Mochte ihr Leben auch kurz gewesen sein, so zogen doch 13 Lebensjahre vor ihrem inneren Auge ab. Schnell, denn ewig vermochte das Mädchen die Luft nicht mehr anzuhalten. Ihr Herz raste. Schmerzhaft. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Sie sank, das spürte sie. Die Wellen des Flusses rissen sie mit. Der Strom ihrer Gedanken war so stark wie der Sog der Themse und was sie umbringen würde, war noch nicht klar. Die Kälte. Der Mangel an Luft. Oder die Angst selbst. Sie riss an ihren Fesseln, doch nichts vermochte die Seile zu lösen. Eher schnitten sie sich tiefer ins Fleisch, nicht mehr spürbar, denn ihr Körper wurde steif. Wurde gefühllos. Taubheit ergriff ihre Glieder. Doch wollte sie noch nicht nachgeben, Gevatter Tod noch nicht die Hand reichen. Sie wollte nicht aufgeben. Nicht jetzt. Nicht hier. Sie hatte nichts unrechtes getan. Und sie würde so nicht die Welt verlassen. Nicht in diesem Schmutzpfuhl. Ein Schrei, ungehört, kam ihr über die Lippen. Ein Fehler, drang doch das Wasserihren Rachen herunter. Sie trat, doch kein Widerstand ertasteten ihre Beine. Nichts. Da war nichts. Jegliche Orientierung war verloren gegangen, ein gutes Ende schien nicht in Aussicht. Und doch … war der Wille da. Sie spürte, wie etwas ihren Körper ruckartig ergriff, doch in der Lage, einzuordnen, um was genau es sich handelte, das war sie nicht mehr. Kaum noch vermochte ihr Leben in der menschlichen Hülle zu verweilen. Doch schien das Schicksal sich dem Mädchen zu Erbarmen …

 

 

Dorian wusste nicht, warum er zu so später Stunde noch in London herum lief, doch war es wohl ein Wink des Schicksals, dass es ihn gerade an das Ufer der Themse zog. Lang war sein heutiger Tag wieder gewesen, erfüllt von Papieren, Vertretern und seinem strengen Vater. Ein abendlicher Spaziergang sollte die Gedanken klären, ihn zur Ruhe bringen. Doch etwas … störte ihn. Es war wohl der ferne Lärm, Schreie, die ihn die Stirn krausen, sich umsehen ließen. Jemand stand auf der Brücke zu Themse, warf etwas hinein. Ein letzter erschrockener Laut war zu hören, dann ein Platschen. Schließlich Stille. Der junge Mann wusste, dass ab und an die Leute etwas in der Themse entsorgten. Oder jemanden. Hell und klar war die Angst der Person, die gerade in den Fluten der Themse versank, gewesen und Dorian zögerte nicht, die Stufen zum Ufer hinunter zu hetzen, sich seiner oberen Kleidung zu entledigen und ins Wasser zu springen. Niemand sollte sein Leben lassen, wenn er in der Nähe war. Niemand.

 

 

Er wusste, dass die Zeit in diesem Moment sein größter Feind war, die Kälte sich niemandem erbarmte, der um diese Zeit in der Themse zu schwimmen wagte. Seine Kleider zogen ihn in die Tiefe, doch der junge Lanchester schwamm gegen Strömung und Sog, zu der Stelle, an der jene Person im Wasser entsorgt wurden war. Leider war der Fluss stärker als Dorian, riss ihn mit sich fort. Und die Kälte machte dem jungen Mann mehr als zu schaffen. Er wusste, dass die Chance immer geringer wurde, Retter zu sein, statt selbst Opfer zu werden. Beinahe schon gab Dorian die Hoffnung auf, als etwas gegen sein Bein stieß. Etwas, dass noch zappelte. Tief holte er Luft, tauchte ab, griff blind in die Tiefe … Und bekam tatsächlich Stoff zu fassen. Er zog das Bündel an die Oberfläche und jemand schnappte keuchend nach Luft, hustete. Spuckte. Dorian schwamm zurück zum Ufer, neue Kraft und neue Hoffnung in sich tragend, den Tritten der Person ausweichend, die er hinter sich herzog. Es brauchte Zeit, doch schafften sie beide es ans Ufer. Erst jetzt erkannte Dorian, wer des Nachts in der Themse zu ertrinken gedroht hatte. Ein Mädchen, jünger als er. Magerer als er. Wilder als er. Sie fixierte ihn, versuchte, von ihm wegzukommen, doch ließ ihr Dorian keine Chance. Er hielt sie zurück, löste die Fesseln, spürte den warmen, stockenden Atem des Mädchens, das wie Espenlaub zitterte.

 

 

„Ganz ru ...“

Ehe er noch diese Worte aussprach, sprang sie auf. Schwankte. Sackte wieder zu Boden. Ihr abgewetztes Kleid klebte an ihrem blassen Körper und nur die grauen Augen zeugten von der Willenskraft, die in dieser kleinen Person schlummerten. Dorian griff nach seinem Mantel, kam vorsichtig näher. Sprach leise.

„Ganz ruhig … Meine Name ist Dorian Lanchester. Und … wer bist du?“

Sie presste die Lippen aufeinander, sah ihn durch die Strähnen ihres nassen Haares an, spannte sich an. Er seufzte, legte ihr vorsichtig den Mantel um die Schultern, was sie geschehen ließ. Ein beißender Wind fuhr auf und sie verkroch sich förmlich darunter. Machte sich kleiner, als sie schon war.

„Kannst du aufstehen?“ fragte er, erhielt jedoch keine Antwort.

Er seufzte erneut, seine Zähne schlugen frierend aufeinander. Nicht gerade waren dies sommerliche Tage. Und er würde sicher die Kleine nicht allein lassen. Dorian richtete sich auf, reichte ihr die Hand.

„Komm. Wir verschwinden von hier.“ Ihre graue Iris blitzte misstrauisch unter seinem Mantel hervor. Rühren tat sie sich nicht.

„Keine Sorge. Ich tu dir nichts ...“ Ein Schnauben erklang.

„Ich würde dich kratzen und beißen, wenn du mir was tätest.“ Er blinzelte. Ihre Stimme war leise, aber fest. Dorian hockte sich vor sie.

„In deinem Zustand?“ Beinahe schmunzelte er.

„In jedem Zustand...“ Sie versuchte, auf die Beine zu kommen, schaffte es jedoch nicht. Kurzerhand hob sie Dorian auf seinen Rücken. Sie verkrampfte sich und beinahe glaubte der junge Lanchester, ein Fauchen zu vernehmen.

„Ganz ruhig. Ich bringe dich erst einmal zu mir nach Hause. Dann sehen wir weiter, okay?“

„Nein. Nicht okay.“

Er lachte leise. „Sind alle Straßenkinder so frech wie du?“

„Sind alle Adligen so nervig wie du?“

Dorian verzog das Gesicht. „Ich habe dir das Leben gerettet, sei mal ein bisschen dankbarer.“

„Ich bin dankbar. Du fragst aber zu viel.“

Er seufzte. „Sagst du mir wenigstens deinen Namen?“

„Vesper. Mein Name ist Vesper.“

Er nickte.“Das ist ein schöner Name.“ Dorian ging die Hauptstraße entlang.

„Hat mein Vater ausgesucht.“ Wieder nickte der junge Mann.

„Wo ist dein Vater?“

„Im Abyss ...“

„Ich verst … Bitte was?!“ Er hielt inne, sah über seine Schulter zu Vesper, die die Arme um seinen Hals geschlungen hatte.

„Er ist im Abyss ...“

Erneut fuhr Wind auf. Doch jener war für diesen Moment vergessen.

„ … du redest … vom Totenreich ...“

„Ja. Vom Abyss. Wie oft soll ich das denn noch sagen?“

Dorians Mund wurde trocken, er nahm den Weg erneut auf.

„Und wie kommst du darauf?“

„Ich bin nicht doof.“ antwortete Vesper schnippisch.

„Nein … das … das glaube ich.“

 

Eine ganze Weile herrschte Stille und ohne weitere Worte betrat der junge Mann das Anwesen und zeitgleiche Agentur seines Vaters. Dorian setzte sie für einen Moment ab, betätigte die Türklingel. Ein Diener kam zur Tür getippelt, öffnete. Warf dem Mädchen einen pikierten Blick zu. Dorian nahm Haltung an.

„Lass dem Mädchen ein Bad ein und lege frische Kleider bereit. Und bitte sag meinem Vater, dass ich ihn sprechen möchte.“

Der Diener verbeugte sich. „Sehr wohl, Herr.“

Vesper blinzelte. „Ich gehe dann jetzt.“ Sie zog seinen Mantel aus, reichte ihn an Dorian.

„Wohin denn?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Mal sehen ...“

Dorian sah zu Vesper. Ihr Haar kräuselte sich, war scheinbar braun. Ihre Lippen waren blau, sie zitterte leicht vor Kälte.

„Komm erst einmal rein. Dann sehen wir weiter.“

Vesper zögerte. „Wenn du mich hintergehst ...“

„ … dann kratzt und beißt du mich?“

„Nein. Dann landest du in der Themse.“

„War ich heute schon ...“

Zum ersten Mal grinste Vesper. „In der Tat ...“

 

 

Die Kleider, die man Vesper lieh, waren ihr viel zu groß, doch für den Moment ausreichend. Wieder mit Farbe im Gesicht und Stolz in den Augen betrat sie das Arbeitszimmer von Dorian, der müde hinter seinem Schreibtisch saß, eine lange Diskussion mit seinem Vater geführt hatte.

„Er sagt, du kannst dich in der Küche nützlich machen ...Dann musst du wenigstens nicht zurück auf die Straße.“

Vesper rümpfte die Nase. „Ich mag dieses Haus nicht ...“

Dorian blinzelte. „Warum nicht?“

„Überall sind Geister. Und sie reden. Und nerven.“

Der junge Mann starrte sie an. Sammelte sich. Dann erhob er sich. „Erzähl bitte meinem Vater, was du mir gerade erzählt hast.“

 

***

 

 

„Warum ein Test?“ Skeptisch sah Vesper den alten Mann vor sich an. Mitte 50 mochte er sein, sein ergrautes Haar glänzte im Schein des dämmrigen Lichtes der Gaslampen.

„Ich will wissen, ob du wirklich so sensitiv bist, wie mein Sohn sagt.“ Der Blick Willow Lanchesters, Vater von Dorian Lanchster, war bohrend. Beinahe diabolisch. Ein Mann, der zu seinem Worte hielt. Und zu seinen Drohungen.

„Ich will aber nicht …“

„Ich kann dich auch wieder auf die Straßen setzen, Vesper … So heißt du doch, richtig?“

Die Angesprochene nickte. „So ist mein Name. Aber ich werde hier gar nichts beweisen.“ Sie verschränkte die Arme und trocken schluckte Dorian, sah zu seinem Erzeuger, der sich leicht vorbeugte, das Kinn abstützte.

„Weißt du, Vesper … Du hast eine besondere Gabe, wenn du wirklich Geister sehen kannst …“ Schmeichelnd lächelte der alte Lanchester die 13 Jährige an. „Und in meiner Agentur kann ich solche Begabten wie dich, solltest du wirklich Geister sehen können, gut gebrauchen.“

Vesper musterte den Mann vor sich misstrauisch. Dann sah sie zu Dorian, wieder zu seinem Vater.

„Das ist doch nichts besonderes …“ gab sie schließlich von sich. „Jeder kann etwas besonderes. Also ist niemand mehr besonders.“ Willow seufzte, lehnte sich zurück.

„Du bist eine harte Nuss, kleine Vesper. Aber ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten: Du zeigst mir, dass du Geister sehen kannst und ich lasse dich dafür hier wohnen und arbeiten. Was hältst du davon?“

„Ihr Angebot hat sich nicht geändert, Sir. Nur Ihre Tonart.“

Einen Moment sah Dorian Wut in den Augen des Älteren aufblitzen, ehe das Lächeln wieder die Oberhand gewann. „Du bist klug, das gefällt mir …“

 

 

Eine ganze Weile herrschte Stille. Dorian glaubte schon, Vesper würde seinem Vater an die Gurgel gehen, doch dann durchbrach ihre Stimme klar das Geschehen. „17 Geister. Allein in diesem Haus. 14 im Kellergewölbe, gut verschlossen in Eisen- und Silberbehältern … Zwei, ebenso eingekerkert, hier im Raum. Und ein ungefährlicher Geist im Flur.“

Willow hob die Augenbrauen. „Geister sind niemals, niemals … ungefährlich … Dorian? Kümmere dich bitte um die Angelegenheit.“

„Sehr wohl, Vater …“

Vesper folgte dem jüngeren Lanchester mit dem Blick.

„Nun. Deine Sensivität ist beeindruckend.“ Willow lächelte wohlwollend. „Ich hoffe, du wirst dich meiner Agentur anschließen?“

„Sir … Bereits als Ihr Sohn Ihnen davon erzählte, haben Sie es doch bereits für sich beschlossen …“

In den Augen des Mannes blitzte es erneut. „Manchmal, kleine Vesper, ist es gut, wenn man seine Intelligenz verbirgt …“

 

***

 

Der Nobelpreisverleihung ging die Projektpräsentation voraus und Dorian forschte schon seit zwei Jahren an den verfluchten Musikinstrumenten, ehe ihm der Durchbruch gelang. Diesmal sollte es ihm gelingen, die begehrte Medaille zu ergattern.

Viele Jahre waren vergangen, seit Vesper und Dorian aufeinander getroffen waren. Die Machtverhältnisse im Hause Lanchester hatten sich geändert. Sein Vater war gestorben, Dorian übernahm sein erbe und die Agentur und stellte mehr Mitarbeiter ein.

Auch der Rest seiner Agentur war hier. Aus Vesper war mittlerweile eine junge Frau geworden. Bildhübsch, wenn man Dorian Lanchester fragte. Der energische Zug war ihr geblieben, ebenso wie das Blitzen in der Iris und sie strahlte noch immer etwas Abweisendes aus. Doch das machte sie in Dorians Augen nur umso attraktiver. Er trat neben sie, die Präsentationsunterlagen im Arm.

„Wenn ich den Preis habe, lade ich Sie zum Essen ein“, versprach er ihr.

„Gewinnen Sie den erst Mal.“ Vesper blieb auf Abstand. „Die Konkurrenz ist nicht zu unterschätzen.“ Manchmal hatte er das Gefühl, Vesper war von einer Schicht Eis umgeben. Eine Schicht, die man nicht brechen konnte, ganz gleich, wie sehr man es auch versuchte. Sie lächelte selten. Und wenn, dann war kaum Freude darin. Und Dorian hatte sie noch nie wirklich lachen gehört.

 

 

Er sah sich zwischen den anderen Kandidaten um. Einige nickten ihm zu, andere deuteten eine Verbeugung an. Er nahm es mit Befriedigung. Ihre Agentur war mittlerweile in ganz London bekannt und seit kurzem auch staatlich im Dienste ihrer Majestät. Kein Wunder. Ihre Erfolgsquote lag bei einhundert Prozent. Das lag zum einen natürlich an seiner unbestreitbaren Klugheit und seinem Gespür für Politik. Zum anderen aber auch an Vesper. Es war ein goldener Tag gewesen, als sein Vater ihr eine Stelle anbot und sie annahm. Dorian hatte sich mittlerweile einen Namen gemacht. Einen Namen, der mit Respekt ausgesprochen wurde. Er war ein allseits bewunderter Mann.

 

 

„Was machen SIE denn hier, Sie Pfuscher? Haben Sie sich eingekauft?“

Zumindest bei beinahe allen.

„Pladderfield“, knurrte Dorian und fasste seinen Erzfeind ins Auge. „Seit wann lässt man den Ihresgleichen hier zu?“

Hieronymus Pladderfield , ein dürrer, junger Mann, der mit seinem wildem schwarzem Haar und der scharfen Nase an eine Vogelscheuche erinnerte, grinste dreist. Obwohl er beinahe vier Jahre jünger war als Dorian selbst, hielt ihn das nicht davon ab, dem Älteren respektlos zuzuzwinkern.

„Wahres Talent unterscheidet nicht zwischen reich und arm.“ Das Grinsen wurde breiter. „Oder zwischen genial und hoffnungslos verblödet.“

„Ihnen werden die dummen Sprüche schon noch vergehen“, drohte Dorian. Was erlaubte sich der Schnösel? Noch grün hinter den Ohren, hatte ein paar Mal Glück gehabt und jetzt kam er hierher und beleidigte einen begnadeten Geisterjäger. DEN Geisterjäger.

Vesper warf Dorian einen warnenden Blick zu. Er zwang sich zur Ruhe.

„Ich werde diese Gespräch nicht fortführen“, verkündete er. „Was ich Ihnen zu sagen habe, ziemt sich nicht in Anwesenheit einer Dame. Im Gegensatz zu Ihnen weiß ich, was sich gehört.“

„Geben Sie's zu“, schoss Pladderfield zurück. „Ihnen fällt nur nichts Schlagfertiges mehr ein.“

 

 

Mit Mühe konnte Vesper die Prügelei der beiden verhindern. Und musste dabei ein paar Mal sehr undamenhaft fluchen. Als Hieronymus Pladderfield an diesem Abend den Nobelpreis für seine Ektoplasma-Forschung gewann, hätte Dorian ihn und sein überhebliches Grinsen mit Freuden in der Themse ertränkt.

 

***

 

„Ich arbeite nicht mit IHM zusammen“, fauchte Dorian. „Es tut mir Leid, aber was denken Sie sich eigentlich? Ich bin ein Profi und ich werde mich nicht mit einem Laien abgeben.“

„Laie mit Nobelpreis“, verbesserte ihn Pladderfield dreist. „Wo ist Ihrer?“ Dorian rauchte vor Wut. Wieder war es Vesper, die dazwischen ging.

„Werden Sie erwachsen, alle beide“, fauchte sie. „Wir arbeiten alle am selben Fall, so ist es jetzt nun Mal. Ich schlage vor, anstatt zu streiten, bringen wir es einfach hinter uns, finden die Objekte und versuchen diese Geisterflut einzudämmen.“

Dorian und Pladderfield tauschten finstere Blicke.

„Sofort“, bellte Vesper.

Die beiden trollten sich grummelnd. Vesper schickte einen von ihnen auf den Dachboden, den anderen in den Keller des verfluchten Anwesen ihres Auftraggebers, sie selbst und die anderen von Dorians Team nahmen die Etagen dazwischen.

 

 

Dorian beeilte sich, diesen Auftrag hinter sich zu bringen. Als sie fertig waren, scheuchte er seine Angestellten nach draußen. Bloß weg von diesem irischen Bastard. Allein der dämliche Akzent brachte Dorian mittlerweile zur Weißglut.

 

 

Zwei Straßen weiter war ein Fest im Gange. Bürgerliche, laute Musik, eine kleine Kapelle spielte. Ein Fiedler machte die Hauptstimme des Liedes, zu dem sich die Leute im Kreis drehten.

„Kommen Sie.“ Er winkte Vesper weiter. Die Straßen waren verstopft. Verstimmt bahnte sich Dorian einen Weg. Pladderfield hatte aufgeholt und reckte den Kopf.

„Sind das Scones?“ Er schnupperte.

„Wen interessiert's?“

„Mich ganz offensichtlich, wenn ich frage.“

Auch Vesper schnupperte jetzt. „Ich verhungere“, erklärte sie. Pladderfield zwinkerte ihr zu.

„Ich lade Sie ein.“

In Vespers Mundwinkel blitzte der Spott.

„Sie trauen sich etwas, Hieronymus, Sie wissen, dass ich die Konkurrenz bin?“

Pladderfield lachte laut und schallend auf, dass Leute im Umkreis von zwei Metern zusammenzuckten.

„Umso besser“, erklärte er. „Kommen Sie?“ Er bot ihr den Arm an. Alles in Dorian zog sich zusammen.

„Vesper...“, drohte er ihr.

Diese nahm den Arm seines Erzfeindes.

„Ich bringe Ihnen gerne einen mit“, bot sie ihm an.

„Ich bleibe so oder so“, knurrte Dorian. Auf keinen Fall würde er Vesper mit diesem Bastard alleine lassen. Er würde das Bürschchen scharf im Auge behalten.

 

 

Als es dunkler wurde, verlor er sie für einen Moment aus dem Blick. Als Dorian sie eine halbe Stunde später wiederfand, hockte sie gemeinsam mit Hieronymus Pladderfield auf einer der Bänke. Er sagte etwas. Sie lachte. Es war ein Lachen, wie Dorian es noch nie von ihr gehört hatte. Frei, fröhlich und unbeschwert. Und selbst auf die Entfernung sah er das Blitzen in ihren Augen, stärker als sonst. Doch galt beides nicht ihm, sondern einem Anderen.

 

Von diesem Moment an begann Dorian Hieronymus Pladderfield aus tiefstem Herzen zu hassen.

 

 

***

 

 

Es gab einen Knall, als Vesper ihm mit der flachen Hand ein Stück Papier auf den Schreibtisch klatschte.

„Ich kündige“, erklärte sie kalt. „Das wars.“

Einen Moment war Dorian aus der Fassung, doch schnell hatte er sich wieder in der Gewalt.

„Sie können nicht kündigen“, sagte er. „Sie stehen unter Vertrag.“

„Zum Teufel mit dem Vertrag!“ Vesper wurde laut. „Vier Menschen! Vier Freunde! Sie haben sie geschlachtet.“

Dorian schnaubte.

„Es war ein kalkuliertes Risiko“, sagte er. „Ich musste eine Entscheidung treffen. Und ja, ich bedauere zutiefst, wie es geendet ist, doch letztendlich konnten wir den Fall abschließen. Mehr noch! Ich habe Ihnen das Leben gerettet.“

„Und vier dafür geopfert! Wie konnten Sie nur? Wie können Sie überhaupt in den Spiegel sehen?“

 

 

Jetzt wurde Dorian wütend. Funkelnd blickte er auf. Begriff sie denn nicht? Dass er das alles für sie getan hatte? Was er noch alles für sie tun würde?

„Sie schulden mir Ihr Leben“, fauchte er sie an. „Ein bisschen Dankbarkeit könnte Ihnen nicht schaden. Aber nein. Stattdessen kündigen Sie mir!“

Vesper verschränkte die Arme. Ihre Entscheidung war getroffen. Dorian verlor sie.

„Wo wollen Sie überhaupt hin?“, begehrte er jetzt auf. „Sie haben keine Wohnung, kein zu Hause, keine Perspektive! Wenn Sie jetzt gehen, enden Sie wieder auf der Straße!“

„Ronie hat mir eine Stelle angeboten.“

„Ro... PLADDERFIELD?“ Dorian schnappte nach Luft, doch Vesper nickte gnadenlos.

„Ja, Pladderfield. Und ich habe zugesagt. Ich bekomme ein Zimmer in seinem Haus.“

Der alte Hass, der nie schlief, kochte in Dorian auf und überflutete ihn.

„Sie verlassen mich nicht nur, Sie verraten mich!“, schrie er und hatte das Gefühl, Gift und Galle zu spucken. Vesper blieb kühl und gefasst.

„Leben Sie wohl“, sagte sie. Dann verließ sie den Raum.

 

 

***

 

 

Es war eineinhalb Jahre her, dass Vesper ihn und die Agentur verlassen hatte. Das Team war düsterer geworden und so auch Dorian selbst. Natürlich kamen sie auch ohne sie aus. Natürlich. Aber dennoch konnte man ihre Abwesenheit nicht leugnen.

 

 

Selbstverständlich war sie nicht ganz aus seinem Leben verschwunden. Immerhin arbeiteten sie beide im selben Berufszweig. Immer mal wieder traf er bei einem Auftrag mit ihr zusammen oder erkannte sie auf einem festlichen Anlässe, dem Geisterball, dem Winterfest, der Lesung zu den Kreischern und Waberern am Institut. Seit Dorian wusste, dass Vesper manche der Veranstaltungen dort besuchte, ließ er keine mehr aus.

Doch stets wurde Vesper jetzt von ihrem Schatten begleitet. Sah er Vesper, dann war der irische Taugenichts nicht weit. Es wurmte Dorian, dass sie sogar mit ihm unter einem Dach wohnte. Unter einem Vorwand war er schon ein paar Mal vorbeigeschneit. Gegenstände, die sie angeblich hatte bei ihm hatte liegen lassen. Einladungen, die er ihr persönlich überreichen musste. Vesper hatte einen Teil des zweiten Stocks für sich. Wie bezahlte Pladderfield das Haus wohl? So gut lief seine kleine Agentur auch nicht und er war nicht reich. Dorian gab sich nicht die Blöße, zu fragen.

 

 

Doch selbst Pladderfield nahm er mittlerweile mit Freuden hin, nur um Vesper zu sehen. Sie hatte sich verändert. Sie war selbstbewusster geworden und dreister. Der Ire und sein loses Mundwerk mussten auf sie abfärben. Dorian hatte ihr noch mehrmals wieder ihren alten Job wieder angeboten. Doch Vesper schlug sein Angebot eins ums andere aus. Dorian gab nicht auf.

 

 

Heute war ein besonderer Tag. Vesper selbst sollte eine kurze Lesung halten. Der Raum war gefüllt mit den Experten und den Hobbyisten, den Hauptberuflichen und so manchem Laien, der die Geisterjagd nur zur Freizeitbeschäftigung trieb, die meisten aus der Londoner Oberschicht. Dorian war hinter die Bühne getreten. Man kannte ihn und ließ ihn ohne Probleme durch. Es war nicht schwer, Vesper zu finden. Sie stand direkt hinter dem Vorhang und selbst auf die Entfernung sah Dorian, dass sie nervös war.

 

 

„Vesper, meine Liebe“, sprach er sie an und sie zuckte zusammen.

„Lanchester.“ Sie japste und wedelte mit einem Bund Blätter. „Sie sind auch hier?“

Er musste schmunzeln. „Ich lasse mir wohl kaum Ihren ersten Vortrag vor der Akademie entgehen“, sagte er. „Sie sehen ein wenig unruhig aus.“

Sie schnappte hektisch nach Luft.

„Ich kann das nicht. Die sollen wieder nach Hause gehen. Jemand anders soll das machen. Ich kann das nicht. Ich bin JÄGERIN, keine verdammte Podiumsfigur!“

Liebevoll ergriff Dorian sie am Arm.

„Beruhigen Sie sich“, tröstete er sie. „Sie werden das ganz großartig machen. Sie sind eine großartige Frau, Vesper, und wenn sie auf diese Bühne treten, wird das auch jeder sehen können.“

„Ich werde ohnmächtig“, beschloss Vesper. „Oder ich breche mir ein Bein. Warum so bescheiden? Gleich das Genick. Oh Gott, wieso hab ich mich nur dazu bereitschlagen lassen?“

Dorian sah es als seine Chance. Sanft nahm er sie in den Arm.

„Atmen Sie tief ein“, befahl er ihr. „Und wieder aus. Sie werden nichts dergleichen tun. Sie können das, Vesper, ich glaube an Sie.“

 

 

Er konnte sie in seinen Armen zittern spüren. Ihre Wärme durch den Stoff seines Hemdes. Die Umarmung war nur kurz, denn Vesper war viel zu nervös und zappelte sich nach ein paar Sekunden wieder frei, doch glaubte sich Dorian einzubilden, dass sie ein wenig ruhiger geworden war.

„Ich stehe hier, hinter der Bühne“, versprach er ihr. „Denken Sie immer daran. Ich halte Ihnen den Rücken frei. So wie früher.“

Vesper presste die Lippen zusammen, nickte dann.

„Danke“, sagte sie. „Danke, Lanchester.“

Applaus brandete auf.

„Na, los, gehen Sie schon“, forderte Dorian sie mit einem breiten Lächeln auf. Er konnte den Iren hören, hinter dem Vorhang, wie er Vespers Vortrag ankündigte. Natürlich war er nicht weit. Dass man ihn überhaupt hier auftreten ließ. Doch heute ging es nicht um ihn. Es ging um Vesper. Und diesmal war sie hier. Bei ihm. Dorian hielt ihr den Vorhang auf. Blass um die Nase, doch tapfer, trat sie auf die Bühne.

 

 

Dorian lauschte hinter dem Vorhang. Er hörte Vespers Stimme, die begann, sich verhaspelte und erneut startete. Sie stotterte, kämpfte mit den Worten, wurde erst leiser, doch dann fasste sie neuen Mut. Dorian konnte es ganz deutlich hören. Ihre Stimme änderte sie sich. Sie wurde kräftiger. Selbstbewusster.

Sie denkt an mich, wusste Dorian. Ich bin hier, Vesper.

 

 

Sie sprach, ging durch ihren Vortrag. Dorian konnte nicht anders. Seine Finger berührten den Vorhang und schoben ihn ein winziges Stück zur Seite. Er sah Vespers Rücken, ihm so nah. Ihr dunkles Haar, das ihr über die Schultern fiel. Dorian verschob den Vorhang noch ein Stück.

 

 

Neben Vesper stand Pladderfield. Gelassen lauschte er ebenfalls. Erst auf den zweiten Blick sah Dorian, dass er Vesper an der Hand hielt. Ungesehen von den Zuschauern im Schutze des Podiums hatten der Ire und Vesper die Finger miteinander verschränkt. Dorians Blick verschleierte sich vor Wut. Hass, grenzenloser Hass durchflutete ihn.

 

 

Vespers Vortrag endete. Das Publikum applaudierte. Und Vesper selbst blickte zu Pladderfield. Beide tauschten ein schnelles Lächeln. Dorian ließ den Vorhang los und verschwand ins Dunkel. Vesper hatte sich entschieden. Auch, wenn sie es vielleicht noch nicht wusste, doch Dorian sah es umso klarer.

 

 

Das wirst du bereuen, Pladderfield, schwor Dorian, überflutet von Neid und Rage. Das wirst du bereuen, Pladderfield. Als hätte er seine Gedanken gespürt, drückte Ronie oben auf der Bühne Vespers Hand. Vesper, die kurz darauf durch den Vorhang schlüpfte, sah sich vergeblich nach Dorian um. Er war bereits gegangen.

 

 

***

 

 

Ich wache, wenn du schläfst. Ich halte dich, wenn du fällst. Meine Seele ist mit deiner verbunden, in dieser Welt und in der Nächsten.

 

Kitschig. Widerwärtig und kitschig. Dorian war schon seit dem frühen Morgen betrunken. Widerwärtiger, ekelhafter Kitsch. Man sollte sie alle hinrichten dafür. Noch immer konnte er es nicht fassen, dass es wirklich passierte. Vesper trug sogar etwas, was einem Kleid nahe kam. Glück dem Brautpaar überall. Verreckt, dachte Dorian.

 

Er hätte dort oben stehen sollen. Es hätte seine Hand sein sollen, die sie hielt. Seine Finger, die ihr den Ring ansteckten. Nicht dieser großkotzige Ire, der nicht einmal zu würdigen wusste, welchen Schatz er da in Händen hielt. Die einzige Möglichkeit, diese grauenhafte Zeremonie durchzustehen war Alkohol. Unmengen von Alkohol. Es war ihm ohnehin ein Rätsel, weswegen Vesper ihn überhaupt eingeladen hatte. Vermutlich hatte sie das nicht einmal getan. Vermutlich war es Pladderfield selbst gewesen, dieses Scheusal, um ihm zu demonstrieren, wie er schlussendlich in Besitz nahm, was Dorian zustand. Erst der Nobelpreis. Jetzt Vesper. Dorian ließ sich sein Glas füllen. Nur mehr Wein und Pestbeulen für die Brautleute.

 

 

Erst am späten Abend erwischte er Vesper allein.

„Lanchester“, begrüßte sie ihn. Er lehnte sich an eine Säulen die zu einem der vielen kitschigen Pavillons gehörte. Ohne die Säule wäre vielleicht sein übermäßiger Alkoholkonsum aufgefallen. So konnte er es kaschieren.

„Vesper Pladderfield“,sprach er sie an. So ein lächerlicher Name.

„Ungewohnt“, nickte sie.

Einen Moment blieb es still.

 

 

„Die große Liebe also“, sagte er verächtlich. „Wenigstens haben Sie es jetzt Schwarz auf Weiß.“ Vesper rollte die Augen.

„Seien Sie nicht biestig.“

„Das Ehegelübde wurde auch gekürzt“, fasste Dorian seinen Erkenntnisstand zusammen. „Wo ist das lieben und ehren?“ Vesper schwieg und Dorian witterte etwas.

„Hat er es jemals gesagt? Dass er Sie liebt? Dass er Sie schätzt?“ Wieder Schweigen. Er hatte es gewusst. Hoffnung flammte auf. Dorian schlug in die Lücke, die sich auftat.

„Niemand versteht Sie, so wie ich es tue“, sagte er eindringlich und nahm ihre Hand. „Niemand kennst Sie so gut, wie ich Sie kenne. Und ich scheue mich nicht zu sagen, was er nicht vollbringt. Ich liebe Sie, Vesper. Ich verehre Sie und ich schätze Sie über alle Maßen und habe keine Furcht, es in die Welt hinauszuschreien. Mehr noch, Ihnen die Welt zu Füßen zu legen. Ich vermag es, das wissen Sie. Was kann er Ihnen bieten?“

Als Vesper seine Hand drückte, war ihr Blick sanft geworden. Mitleid lag darin.

„Es tut mir Leid“, sagte sie. Dann ließ sie los. Näher war er ihr nie gewesen.

 

 

***

 

 

Das Haus lag in Schutt und Asche. Zerbrochenes Glas knirschte unter Dorians Füßen, als er durch die Trümmer schritt, hinein in den Qualm und die Staubwolken, die sich noch nicht gesetzt hatten. Das Geräusch, als der Dachstuhl in die Luft flog und den Lärm, als das Gebäude daraufhin unter diesem zusammenfiel, die Balken nachgaben und alles einstürzte, hatte man durch die halbe Stadt gehört. Pladderfield konnte das unmöglich überlebt haben. Doch entgegen seiner Erwartung verspürte Dorian keinen Triumph über das Ableben seines Erzfeindes. Genau genommen fühlte er gar nichts.

 

 

Beinahe wäre er auf ihn getreten. Der Körper seines jahrelangen Gegenspielers lag ausgestreckt in den Trümmern, bedeckt von einer feinen Schicht Staub und Asche, eingeklemmt unter einem Balken. Zu seiner Überraschung lebte er noch, als Dorian in die Knie ging. Sein Rückgrat musste gebrochen sein, er lag verrenkt und ein riesiger Holzpfosten hatte sich in seinen Unterleib gebohrt.

„Vesper“, flüsterte er.

 

 

Dorian beugte sich vor.

„Vesper ist nicht hier“, sagte er. „Sie sterben, Pladderfield.“

Die schmalen Lippen bewegten sich. Ein Atemzug. Ein weiterer. Eigentlich hätte Dorian diesen Auftrag übernehmen sollen. Er hatte ihn auf Pladderfield abgewälzt.

„Sagen Sie ihr...“ Wieder ein Atemzug. „Sie müssen ihr sagen... Sie schulden mir...“

Dorian zögerte, nickte dann jedoch grimmig. Als Pladderfield wieder sprach, war seine Stimme plötzlich klar.

„Ich habe sie mein ganzes Leben geliebt. Mein ganzes, kurzes Leben lang liebte ich Vesper.“

 

 

Da endlich kamen die Gefühle zu Dorian zurück. Wut. Wut wallte in ihm auf. Wut und Neid.

„Versprechen Sie es“, forderte Pladderfield. Der Hass nahm Dorian die Sicht. Der Neid wurde eins mit den Qualen des Sterbenden.

„Fahren Sie zur Hölle“, flüsterte er. Dann sah er zu, wie er starb.

 

 

Vesper traf eine halbe Stunde später ein. Pladderfield war zu diesem Zeitpunkt längst tot. Sie hatte nie eine Chance gehabt.

„Hat er etwas gesagt?“, wollte Vesper wissen, als sie erfuhr, dass Dorian ihren Mann gefunden hatte. Sie war ungemein tapfer, hatte kaum geweint. Doch das Blitzen, das zuvor stets in ihrem Blick gewesen war, war verschwunden. Die grauen Augen waren ohne Leben und leer. Sie war kälter geworden.

„Er sprach von seinen Hunden“, log Dorian. „Von dem Nobelpreis. Und seiner Mutter. Er war wohl sehr wirr.“

Vesper nickte.

„Der Nobelpreis“, sagte sie. „Typisch.“

 

 

***

 

 

Dorian brauchte sechs Monate, um Vesper aufzuspüren. Gleich nach der Beerdigung in dem kleinen Kaff, in dem sie und Pladderfield gelebt hatten, irgendwo an der englischen Westküste, war sie verschwunden. Das gemeinsame Haus der beiden stand leer. Nach Ewigkeiten gelang es Dorian, sie zu finden. Ironischerweise war sie nur wenige Meilen weiter gezogen. Und doch war es ihr gelungen, beinahe komplett zu verschwinden. Anfangs glaubte er, sie würde ihn nicht hereinlassen. Doch dann trat sie zur Seite und gab den Weg frei in ein schlichtes Wohnzimmer.

 

 

„Spartanisch“, kommentierte Dorian.

„Ich brauche nicht viel.“ Sie war kühler geworden. Und älter. Von dem kecken Mädchen war nichts geblieben.

Dorian setzte sich, als sie ihm einen Tee brachte.

„Was tun Sie hier?“

„Ich vervollständige die Chronik. Seine Chronik.“

„Die Chronik?“

„Die Chronik der übernatürlichen Wesen. Es war Ronies Traum, eine Sammlung zu erstellen und sie zu veröffentlichen.“

Dorian verzog das Gesicht bei Erwähnung des Namens.

„Was tun Sie hier, Lanchester?“

Dorian räusperte sich.

„Ich bin hier, um Sie nach Hause zu bringen.“

Vesper runzelte die Stirn. „Ich bin zu Hause.“

Dorian stellte seine Tasse ab, wiegte dann sanft den Kopf hin und her.

„Ach, Vesper“, sagte er. „Vesper, Vesper.“

 

 

Sie blieb skeptisch. Dorian nahm ihre Hand.

„Sehen Sie sich doch an“, sagte er. „Sie gehören nicht hierher. Das haben Sie nie. Sie gehören nach London, an die Seite eines Mannes, der Sie kennt und unterstützt, der Sie versteht und der Ihnen Mut macht.“

Sie entzog ihm energisch die Hand. „Dieser Mann ist tot“, erklärte sie. „Wenn das alles ist, was Sie hierher treibt, Lanchester, dann gehen Sie jetzt besser.“

Wieder war da die Wut.

„Ein Mann, der sie nicht einmal zu schätzen wusste, ist tot“, fauchte er. „Er hat Sie nicht geliebt, Vesper, er war nicht dazu in der Lage und das wissen Sie. Seine Trophäen waren ihm wichtiger als seine Frau. Sie hängen einem Irrglauben an, Vesper, einem weiblichen Irrglauben an eine Liebe, die es niemals gab. Sie sind nun frei.“

Vespers Arme verschränkten sich, doch als sie etwas einwerfen wollte, ging Dorian dazwischen.

„Welcher Mann kann einer Frau nicht sagen, dass er sie liebt? Welcher Mann schenkt die letzten Momente in seinem Leben den Hunden statt dem Eheweib?“

„Er hat es mir gesagt“, erwiderte Vesper ruhig. „Auf seine Weise. Daran habe ich keinen Zweifel.“

„Ein Irrglauben“, schnaubte Dorian. „Ein fataler Irrglauben. Doch spielt er keine Rolle mehr. Er ist fort. Ich aber bin hier und biete Ihnen meine Hand und meine Stärke. Nehmen Sie sie. Sie sind nicht länger gebunden.“

Vesper sah ihn direkt an. „Waren Sie nicht auf meiner Hochzeit, Lanchester? Haben Sie nicht mein Versprechen gehört? Meine Seele ist mit deiner verbunden, in dieser Welt und in der Nächsten.“ Ihr Blick blieb ernst, doch glaubte Dorian eine Gelassenheit darin zu lesen.

„Ich habe vor, dieses Versprechen zu halten.“ Sie stand auf. „Es war nett, dass Sie vorbeigekommen sind. Leben Sie wohl.“

 

 

Da begriff Dorian, dass er verloren hatte. Selbst jetzt noch triumphierte der scheußliche Ire über ihn. Der Preis und die Frau. Als Dorian in die Kutsche stieg, blitzte der Wahnsinn aus seinen Augen.

„Du wirst noch sehen, Pladderfield“, kicherte er. „Oh, du wirst dich noch umsehen.“

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