Raise Awareness II:

One Shot - Lost

 

Autorin: Ivy

 

 

Es war ein grauer, verschneiter Dezembertag, als sich Derra durch die Papierstapel alter Akten und Unterlagen wühlte, dabei stetig zu Elijah sah, der die Nase hochkonzentriert krauste und ein weitere Dokument zu sich nahm. Schweigend wurde ihre Arbeit im Klassensprecherzimmer durchgeführt, obgleich Derra viel lieber mit einer heißen Schokolade in seinem Zimmer gesessen hätte. Doch Arbeit war Arbeit und musste getan werden. Und Wyn war unausstehlich, wenn sie wusste, dass man schlampig seine Aufgaben erledigte. So richtig unausstehlich.

Es waren bereits 2 Stunden zwischen alten Schülerakten und Unterlagen vergangen, als Derra auf eine Akte stieß, die einen dicken, roten Stempelaufdruck versehen war.

„Deceased“

Er schlug die kleine Mappe auf, sah diese durch. Stockte.

„Heilige ...“

Elijah blickte etwas neben der Spur auf, blinzelte ein paar Mal, ehe die Realität ihn zurück hatte.

„Derra? Was ist?“

Dieser hielt ihm die Akte hin.

„Dieses Mädchen war vor 3 Jahren hier Schülerin. Sie wurde am 14.12. als „Deceased“ eingetragen. Das ist fast auf den Tag genau ...“ Derra blätterte weiter. „Sie sprang vom westlichen Turm in den … Tod ...“

Elijah legte seine Papiere beiseite, setzte sich zu Derra, las die Notizen zu „Ratherford, Fabianne“.

„Ja. Es war damals ganz kurz in den Nachrichten. Sie nahm sich wohl das Leben aufgrund familiärer und schulischer Probleme ...“

Derra schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht, wie man deswegen sein Leben beenden kann ...“

Elijah rückte seine Brille zurecht. „Es gibt unterschiedliche Gründe, das zu tun ...“

Derra blinzelte, sah seinen Freund an. „.... bitte?“

„Nun ...“ Elijah atmete tief durch, musterte die Notizen. „... hier. Siehst du das?“ Er hielt Derra einen Bericht unter die Nase.

„Dies hier wurde 4 Monate vor dem Selbstmord verfasst. Sie litt an einer Depression … Könnte aber auch eine BPS-Störung gwesen sein.“

„BPS?“

„BPS ist die Abkürzung für eine Borderline-Störung. Mit ihr geht oftmals eine Depression einher … Und, wenn du die Unterlagen durchsiehst, war auch ihre Schwester von einer solchen betroffen … Bipolare Störung heißt es bei Gillian Ratherford ...“

Derra schluckte, lehnte sich zurück. Fuhr sich durch das Haar. „Bipolar, BPS, Depression …. Die Palette ist ja endlos … Krass ...“ Er war leicht blass geworden.

Elijah legte die Unterlagen beiseite, setzte sich wieder auf seinen Platz.

„... ich verstehe das nicht …Wenn man Hilfe braucht, holt man sie sich doch, oder? Gerade in einer solchen Situation.“

Der Jüngere neben ihm neigte den Kopf. „Ich glaube, dass das alles nicht so einfach ist. Ich meine: Stell dir mal vor, du bist in einer solchen Lage. Da fühlst du dich unsicher und weißt nicht, woran du bist. Depressive zum Beispiel durchleben eine Achterbahn der Gefühle. Mal geht es ihnen Monatelang schlecht und sie wollen gar nichts. Die ganze Lebensfreude ist fort. Und dann, nach einer gewissen Zeit, geht es ihnen wieder gut. Sie leben und sind wieder so, wie ihr Umfeld sie kennt … Das verwirrt sie selbst und die anderen. Dann gibt es Angststörungen, in denen der Betroffene in seiner Angst gefangen ist und von allein nicht weiß, wie er damit umgehen muss. Sie schränken sich in ihren Handlungen selbst ein, weil die Angst sie zu sehr überwältigt. Es ist so ähnlich wie bei einer BPS-Störung, in denen der Betroffene von seinen eigenen Gefühlen überschwemmt wird. Allerdings kann es bei der BPS-Störung ebenso zu einer gestörten Selbstwahrnehmung kommen, weshalb sich die Betroffenen jeden Tag anders wahrnehmen. Es kann zur inneren Leere kommen. Nichts, was diese und Dritte auf die leichte Schulter nehmen sollten und können. Die gestörte Selbst- und Fremdwahrnehmung ist im übrigen etwas, dass zum Beispiel bei der Schizophrenie einen großen Teil des Krankheitsbildes einnimmt … Aber das ist nur ein kleiner Einblick. Die Wege der Psyche sind unergründlich und jede Person hat seine eigene Geschichte. Das macht es selbst den professionellen Kräften manchmal schwierig, zu helfen …“

„Du weißt … ganz gut darüber Bescheid, hm?“

Elijah zuckte mit den Schultern. „Man muss sich nur einmal damit befassen, dann begreift man auch ein wenig mehr ...“

„Aber … warum springt man dann in den Tod? Egal, wie schlecht es einem geht: Es gibt doch immer eine Lösung.“

Elijah seufzte leise. „Nicht immer für die Betroffenen. Sie verrennen sich in ihrer eigenen Gedankenwelt, werden überwältigt von Emotionen und wissen nicht ein und nicht aus. Es gibt so viele Facetten der Psyche, sodass es schwer ist, jedem auf dem richtigen Weg zu helfen. Aber es ist möglich. Nur … du weißt, wie es mit Leuten ist, die anders sind ...“

Derra nickte. „Jep. Werden ausgegrenzt und es wird mit dem Finger auf sie gezeigt. Ist schon echt ätzend. So, wie du mir das beschreibst, geht’s einem Depressiven oder eben psychisch kranken schon so mies genug und dann müssen noch Leute kommen, die noch nachtreten oder Hobbydoktoren spielen ...“

Der Morgan nickte. „Ist nicht gerade hilfreich in solchen Situationen. Für die Betroffenen und Familie und Freunde ist es echt das Beste, sich professionelle Hilfe zu suchen. Oder mit anderen, die ähnliche Probleme haben, zu sprechen ...“

Derra legte die Akte beiseite. „Wir sollten bei der nächsten Konferenz einen Schulpsychologen zur Ansprache bringen. Es gibt genug Schüler und Schülerinnen, die ihre Sorgen für sich behalten und sich nicht trauen darüber zu reden … Damit so etwas wie im Falle der Ratherford nicht noch einmal geschieht.“

Zum ersten Mal lächelte Elijah. „Das erscheint mir eine gute Idee zu sein.“

Und ein Schritt in die richtige Richtung ….

 

Kommentare: 2
  • #2

    Franzi (Sonntag, 13 Dezember 2015 14:11)

    Ich weiß gerade gar nicht, was ich sagen soll.
    Diese Reihe geht mir unheimlich nahe, weil es eben Themen sind, die uns alle in gewisser Weise betreffen, mit denen man sich aber nicht näher befasst. Durch dich, Ivy, tun wir dies nun. Es regt zum Nachdenken an und ist sehr tiefgründig. Vielen Dank.
    Und auch die Bilder finde ich sehr gelungen. Sie untermalen (falls der Begriff in dem Zusammenhang überhaupt angebracht ist) dieses schwierige, ernste Thema sehr gut. Großes Kompliment an dich, Larry. :-)

  • #1

    Prinzessin Dracula (Sonntag, 13 Dezember 2015 10:52)

    Wow. Ivy. Danke für diesen OS.
    Das ist .. 'Wahnsinn' ist iwie das falsche Wort.. das verdient echt Respekt. Allein das Thema anzusprechen ist ziemlich gut und es dann noch mit Worten so einzufangen. Ich find die Raise Awareness OS eine tolle und wichtige Idee.

    Die Bilder sind toll. Ich bin ein Fan von der Colorierung. Hätte nicht gedacht dass so viele Schüler Narben mit sich herum tragen, vor allem so große oder großflächige.

    Ein tolles Türchen! ♥