H A P P Y   H A L L O W E E N

Autor: Betty

 

Schaudernd zog sich der Junge die Kapuze über die zerstrubbelten, rotbraunen Haare und kämpfte zwar fröstelnd, aber entschlossen gegen den eisigen Wind an, der heulend durch die Straßen fegte. Der nahende Winter hatte den Bäumen längst ihren bunten Herbstzauber genommen und es bildeten sich vereinzelt bereits dichte Nebelschwaden. Der Mond glänzte als schmale Sichel am Firmament, wurde jedoch immer wieder von Wolken verdeckt. Lediglich die Straßenlaternen erhellten die Nachbarschaft, ab und an auch die Scheinwerfer eines Autos.

 

Man sollte meinen, in einer solch ungemütlichen Nacht würden sich die Menschen, die immerhin als intelligenteste Rasse bezeichnet wurden, lieber vor ihren Fernseher aufs Sofa gammeln oder gleich ins Bett gehen. Zu mindestens konnte man doch von ihnen erwarten, im Haus zu bleiben. Aber nein, es war eine besondere Nacht und es war offensichtlich notwendig, die kleinen Kinder bei Minusgraden in dünnen Kostümen nach draußen in die alles verschlingende Finsternis zu schicken, um Süßigkeitensöldner zu spielen.

An jeder Ecke sah man kleine Gespenster und Hexen, einhändige Piraten und sadistische Clowns. Und keiner von ihnen war größer als einen Meter fünfzig und keiner war älter als sieben Jahre. Der Junge kannte diese Gegend gut, wusste sogar, wer sich hinter den albernen Masken verbarg, konnte sie alle beim Namen rufen. Wie oft war er durch diese Straßen gewandelt, auf der Suche nach einem ruhigen Fleckchen, nach etwas Frieden. Selbst im Schlaf würde er sich in der Nachbarschaft einwandfrei zurecht finden, würde sich niemals verlaufen. Zu Clara Thorn, die mit ihrem kleinen Bruder als Indianerin und Cowboy losgezogen war, waren es von hier aus noch genau zwei Blogs, danach rechts abbiegen, nochmal vier Blogs, dann links und dann war es das vierte Haus auf der rechten Seite.

 

Oh ja, Tate hatte die Menschen hier studiert. Kannte ihre Gewohnheiten, ihre Freunde, ihre Familie, einfach alles. Was sollte man den lieben langen Tag auch anderes machen, wenn man nicht nach Hause konnte, in der Schule aber auch nicht bleiben wollte? Menschen waren interessant. Ihr Verhalten war interessant. Manche bemerkten, dass sie beobachtet wurden, manche rauschten einfach mit der Sensibilität eines Steines durch ihr Leben und bekamen überhaupt nicht mit, was rechts und links von ihnen geschah.

Bexley war ein kleines Viertel in den Außenbezirken von London und die letzten zwei Jahre hatte Tate im Grunde damit verbracht, auf Bänken und Mauren oder in Parks rumzulungern und einfach seine Umwelt zu studieren. Dadurch hatte er viel mehr gelernt, als ihm ein Geschichtslehrer jemals beibringen könnte. Aber es wäre sinnlos, den Professoren das zu erklären. Sie schätzten Bildung immer noch als das höchste Gut. Wenn sie nur wüssten, wie falsch sie damit lagen.

 

Während um ihn herum die Kinder an den Haustüren der mal mehr, mal weniger fremden Familien klingelten, versuchten „Süßes oder Saures“ möglichst bedrohlich zwischen den klappernden Zähnen herauszupressen und sich gegenseitig mit der Menge an Süßigkeiten übertrumpften, achtete niemand auf den älteren Jungen, der in ausgelaufenen Jeans und einem weiten Pulli den Weg zur Kirche einschlug. Seit Jahren war er dort nicht mehr hingegangen, hatte den Ort gemieden. Er glaubte nicht an Gott und tat es auch jetzt nicht. Wenn es einen Gott geben würde, konnte er einfach nicht all die schrecklichen Dinge mitansehen, die hier unten auf seinem Planeten geschahen, und dennoch keinen Finger rühren.

 

Aber hier würde man Tate nicht suchen, hier hatte er mit Sicherheit seine Ruhe. Kurz blickte er sich nach rechts und links um, doch die Kinder waren viel zu viel damit beschäftigt, Bonbons und Schokolade in ihre Tüten zu schaufeln. Mit einem leisen Quietschen öffnete er die Tür zum alten Gebäude und zwängte sich durch den Spalt. Es dauerte einige Augenblicke, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann lief er langsam den Gang zwischen den Sitzreihen zum Altar vor. Im Laufen strich er sich die Kapuze seines Pullis vom Kopf und lockerte seine verkrampfte Haltung ein wenig. In der Kirche selbst war es natürlich auch kalt, aufgrund des abweisenden Steins vielleicht sogar noch ein wenig kälter als draußen, aber immerhin herrschte hier drin kein eisiger Wind, der dir zuerst Tränen in die Augen trieb und sie dann gefrieren ließ.

Mit einem Seufzen schob Tate den Vorhang zum Beichtstuhl beiseite und ließ sich auf das kühle Holz plumpsen. Er war nicht hier, um zu beichten. Er war ja nicht mal Katholik, sondern rein formell ein Protestant. Aber bisher konnte ihn schlicht und einfach keiner davon überzeugen, dass eine höhere Macht existierte. Aus der Kirche auszutreten würde allerdings zu viele Umstände und Papierkram machen, weshalb Tate offiziell noch immer im Religionsunterricht angemeldet war.

 

Kurz war ein Rascheln zu hören, danach klickte ein Feuerzeug und kurz darauf erhellte eine kleine Flamme den Beichtstuhl. Mit einem zufriedenen Seufzer zündete Tate den Joint in seinen blauen Fingerspitzen an und nahm einen kräftigen Zug.

Die Ereignisse rauschten wie ein Fotoalbum an seinem inneren Auge vorbei und er spürte die Leere in seinem Inneren wie ein großes, hungriges Loch, das alles und jedem um sich herum gnadenlos verschlang.

Zuerst war da heute Morgen das Gespräch mit Naomi gewesen, seiner einzigen wirklichen Freundin. Knapp hatte er ihr erklärt, dass er es hier nicht mehr aushielt und gehen müsse. Sie verstand ihn, natürlich tat sie das. Naomi war vermutlich die einzige Person, die ihn jemals wirklich verstehen würde. Anschließend der Rucksack in seinem Zimmer, wie er ihn mit Pullis und Hosen, etwas Essen, Trinken und Geld vollstopfte, selbstverständlich fehlten weder Tabak noch das bisschen Gras, was er sich noch aufgespart hatte. Dann seine Mutter, die ins Zimmer stürmte, ihn unter Tränen anschrie, anklagte, anflehte. Er schickte sie raus, verschloss die Tür. Sein Vater, der sie einfach eintrat, brüllte und fluchte und dann der Schmerz. Tate spürte die Wunden auf seinem Rücken noch immer, brennen Striemen, die nur sehr langsam wieder verheilten. Auch die Schwellung an seinem Auge war noch nicht abgeklungen, von der aufgeplatzten Lippe ganz zu schweigen. Aus den Augenwinkeln hatte er den Blick seiner Mutter aufgefangen, wie sie schluchzend daneben stand, zusah, aber keinen Finger rührte. Später hörte er, wie sein Vater sämtlichen Alkohol und ebenfalls seine Erinnerungen in die Toilette spuckte und runterspülte. Und dann ergriff er seine Gelegenheit. Er rannte, so schnell ihn seine Füßen tragen konnten, stürzte aus dem Haus, auf die Straße, den Rucksack auf den Schultern, hetzte durch die Gassen und Gärten bis er sich endlich sicher war, entkommen zu sein.

 

Und jetzt war er hier.

 

Mit jedem Zug spürte er, wie sich der Mangel an Gefühlen nun endlich kontrollieren ließ. Eigentlich sollte man meinen, es wäre leichter, ohne Gefühle zu leben als mit ihnen, doch das war eine Illusion. Tate fühlte sich jeden Moment vor einer wörtlichen Explosion; Wut, Hass, Trauer, Zorn, Enttäuschung hämmerten gemeinsam und entschlossen gegen die meterhohe Mauer, die er mühsam und über Jahre hinweg aufgebaut hatte.

Doch es nützte nichts. Irgendwann kam alles wieder raus und dann war es nur umso schlimmer. Dennoch musste er es wenigstens versuchen, solche Momente so oft wie möglich zu vermeiden.

 

„Fuck, fuck, fuck, fuck, fuck, fuck, fuck!“

 

Fluchend sprang der Junge auf, trat noch hastig den Joint aus, bevor er gehetzt aus der Kirche stürzte. Glücklicherweise lag sie am Stadtrand, an den sofort ein kleines Wäldchen grenzte. Mit letzter Kraft hechtete er zwischen die Bäume, schleuderte den Rucksack mit all seinem Hab und Gut, das er nach dem heutigen Tage noch besaß, von sich und hob schützend die Arme vors Gesicht. Die Hände verdeckten die zugekniffenen Augen, doch auch das würde es nicht aufhalten.

Er spürte es.

Ganz langsam, ganz sanft startete es, ein leichtes Gribbeln in seinem Magen. Wie in Zeitlupe konnte er dessen Weg mitverfolgen, wie es langsam in seine Brust hinaufstieg. Ein Atemzug noch, ein letztes Blinzeln, dann erreichte es sein Herz. Für den Bruchteil einer Sekunde passierte gar nichts, dann pumpte sein Herz erneut und das anfängliche Gribbeln, das mittlerweile zu einem elektrisierenden und stechendem Knistern angeschwollen war, wurde über Arterien und Adern direkt in seine Fingerspitzen geschossen. Mit einem lauten Zischen entluden sich all die angestaute Energie, der Frust und der Schmerz, all die Emotionen, die er eigentlich unterdrücken wollte, in seine Umgebung. In Form von grellem Blitzlicht erhellten sie kurz den Wald, bevor sie auf eine kleine Baumgruppe traf und für eine gewaltige Explosion sorgte. Ihre Wucht und Kraft schleuderten Tate einige Meter zurück und nur mit viel Glück verfehlte er den dicken Stamm einer altehrwürdigen Eiche.

Ein schrilles Pfeifen erklang in seinen Ohren und nur mühsam kämpfte er sich zurück auf seine Füße. Seine Sicht war verschwommen und sein Gehör würde für die nächsten paar Wochen verrücktspielen, aber dennoch nahm er das Knistern und Brodeln des Feuers wahr, das um ihn herum wütende und alles verschlang, was ihm in den Weg kam. Stolpernd schleppte er sich zu seinem Rucksack und schaffte es gerade noch zum Waldrand, bevor er in sich zusammenbrach und ohnmächtig im feuchten Gras liegen blieb.

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