Aévyn Tialis

 

Teil 4 von 4

 

 

Leise fiel der Schnee und bedeckte den Park in Aldcrest mit einer weißen Decke, die so unberührt schien, so rein, trotz dem Schmutz der Welt. Und inmitten der tanzenden, gefrorenen Regentropfen im winterlichen Kleid saß Clover, an einer Zigarette ziehend und wartete. Sie wusste, dass sie sich beeilen musste, denn der verräterische Zigarettenqualm, nach dem sie stank, würde ihre heutige Sünde von drei Glimmstängeln verraten. Und dies würde ihr Ärger einbringen. Ärger auf den sie gern verzichtete. Leicht ungeduldig sah die 21-Jährige auf, blickte durch das Treiben des Himmels und wippte leicht mit dem Fuß. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen und die Person, auf die sie wartete, wusste dies. Doch schien sie sich trotzdem zu verspäten. Mit einem Seufzen drückte Clover den Stummel aus, zog ihr Tuch enger und mummelte sich ein. Ihr war kalt, die Zehen spürte die junge Frau schon nicht mehr, doch trotzdem verharrte sie. Lange müsste es ja nicht mehr dauern. Sicher nicht … So hoffte Clover zumindest, deren blaue Augen das ganze Areal erfassten, jede Bewegung wahrzunehmen vermochten. Doch mehr als einige Raben befanden sich nicht im Park. Ein flinker Griff in die Tasche förderte einen neuen Tabakstängel zutage, der wenige Augenblicke später glimmend zwischen Clovers Lippen klemmte, die etwas nervös wirkte und auch war. Immer wieder huschte ihr Blick über die verschneiten Wege, immer wieder über die Wiesen, zum vereisten Teich. Doch nichts. Ein wenig ärgerte sie dieser Umstand schon, doch zwang sie sich zur Ruhe. Es gab sicher einen guten Grund, sie hier warten zu lassen. Sicher war etwas dazwischen gekommen. Eine leise Stimme der Angst, versetzt wurden zu sein, meldete sich. Was war, wenn Clover den Abend doch allein verbringen würde?

Die Angst, die Clover ein wenig herum laufen ließ, war völlig unbegründet, denn Schritte erklangen hinter ihr und mit einem frechen Lächeln sah die junge Frau hinter sich, erblickte das Mädchen, dass auf sie zu gestapft kam.
„Du kommst ja auch noch“, zog sie sie etwas auf, doch merkte man Clover die Erleichterung an.
„... meine Mom hat angerufen … Und ich wollte sie nicht abwimmeln.“ Aévyn sah entschuldigend drein. „Ich habe mich wirklich beeilt. Ehrenwort. Hoch und hmpfhs ….“
Clover hielt ihr den Mund zu. „Schon gut, schon gut.“ Sie winkte ab, griff zu ihrer Hand, zog sie mit. „Na komm. Gehen wir. Ich spüre meine Füße schon nicht mehr. Und ich hatte nicht vor, krank zu werden.“
Brav folgte ihr Aévyn, in deren grauen Augen Clover das schlechte Gewissen lesen konnte. Die 21-Jährige wusste, dass das Internatsleben nicht immer Pünktlichkeit zuließ, weshalb sie der Tialis ihr Verspäten nachsah, die sonst immer bemüht war, ihre Versprechen einzuhalten. Doch jetzt, wo Clover ins fröhliche Gesicht der Schülerin blickte, konnte sie nicht anders, als sogar ihre kalten Füßen zu vergessen. Sachte drückte sie Aévyns Hand, die ihr ein strahlendes Lächeln schenkte.
„Möchtest du noch irgendwo hin?“ Die Blauhaarige erkundigte sich vorsichtshalber, ehe das Verneinen ihrer Begleiterin sie den Weg zu ihrer Wohnung einschlagen ließ.
„Wie war deine Woche?“ Aévyn sah sie abwartend an, während Clover nach den richtigen Worten suchte.
„Unspektakulär“, grinste sie, doch setzte nach. „Es war nicht viel zu tun. Ich soll mich im neuen Jahr noch einmal im Archiv melden. Vielleicht haben sie dann Arbeit für mich.“
Die Tialis schien zufrieden mit der Antwort zu sein, nickte optimistisch.
„Und wie war die letzte Schulwoche?“
„Es war nicht mehr viel … Die Ferien haben begonnen und die meisten Schüler sind nach Hause gefahren.“
„.... wolltest du nicht?“
Aévyn sah sie an, blinzelte. „Ich wollte Weihnachten bei dir sein.“
Clover lachte auf. „Ich weiß. Ich wollte es einfach nur noch mal hören. Mein Ego streicheln und so.“
Die Tialis kicherte, knuffte sie. „Du bist doof.“
Das Grinsen der Punkerin wurde noch breiter. „Und du liebst mich dafür.“

Warm war es in Clovers Wohnung, als sie diese betraten und ihre Mäntel und Schuhe ablegten. Aévyns Blick fiel auf das rechte Handgelenk der Älteren. „Die Armbänder sind neu“; stellte sie fest und tatsächlich trug Clover zwei neue Lederarmbänder.
„Neu ist so ein Begriff. Die habe ich aus dem An- und Verkauf aus Aldcrest. Gefallen sie dir?“ Die Blauhaarige hielt ihr die Errungenschaft unter die Nase und Aévyn strich über die raue Oberfläche der Bänder. „... die Perlen sind schön, die eingebunden wurden.“ Clover grinste, schob sie Richtung Wohnzimmer, in dem halbwegs Ordnung herrschte. Die 21-Jährige hatte sich alle Mühe gegeben, aufzuräumen. Doch im Endeffekt war alles Unnötige einfach in ihren leicht ramponiertes Kleiderschrank geflogen. Ein Umstand, den die Tialis kannte und doch unerwähnt ließ.
„Ja, ich weiß. Ich hab nen tollen Geschmack.“
Aévyn kicherte. „Du bist zu überzeugt von dir ...“
Clover drehte sie um, tat empört. „Du nicht?“
„ … deine Selbstüberzeugung würde dies überstehen, glaube ich.“
Clover griff sich an die Brust. „Urgs. Das traf. Wie kannst du nur so grausam sein?“
„Wie kannst du nur so von dir selbst überzeugt sein?“, konterte die jüngere, bekam ein Schnippen gegen die Stirn.
„Sei nicht so frech, sonst gibt’s keinen Stollen.“
Aévyn schnappte empört nach Luft, verschränkte die Arme. „Aber ich habe Bestechung.“
Clover spitzte die Ohren. „Welche Art von … Bestechung?“ Sie konnte nicht anders, sie musste anzüglich grinsen, was der Jüngeren die Röte auf die Wangen trieb.
„Nicht DIESE Art von Bestechung“, verteidigte diese sich, kramte in ihrer Umhängetasche, zog ein kleines, fein säuberlich eingepacktes Geschenk hervor.
„Oh.“ Clover fuhr sich ein wenig beschämt durch das blaue Haar. „... ich wusste nicht, dass wir … uns was schenken ...“
„Oh. Nicht schlimm. Ich kann es auch wieder mitnehmen.“ Aévyn tat, als würde sie das Päckchen wieder einstecken, doch schaffte es nicht einmal annähernd in Richtung ihrer Tasche, denn Clover sprang vor, riss ihr es aus den Händen.
„Vergiss es!“ Damit brachte die junge Frau Abstand zu der Tialis, die abwartend auf ihrer Unterlippe kaute und beobachtete, wie Clover das Papier aufriss und schließlich mit einer kleinen Verpackung in der Hand, in der eine Uhr mit dunkelblauem Ziffernblatt und silberner Beschriftung sowie mehreren ledernen Bändern mit Anhängern war. Clover klappte der Mund auf.
„Hast du nicht gekauft.“
„Doch. Hab ich.“ Aévyn grinste frech. „Sie hat dir doch gefallen … oder nicht?“
„Ich LIEBE sie.“ Die junge Frau lachte auf, umarmte die Jüngere stürmisch und drückte ihr einen innigen Kuss auf. „Und dich liebe ich auch. Du Verrückte. Du verrückte, wunderbare, irre Person!“ Die Tialis grinste glücklich. Da war ihr die Überraschung ja gut gelungen.

Es war spät geworden. Kein Licht brannte mehr im Raum und es roch nach Pfefferminztee und Pizza. Clover und Aévyn lagen auf der ausgeklappten Couch der 21 Jährigen, aneinander geschmiegt und beobachteten den Schnee vor dem Fenster, eingehüllt in warme Decken, während sich die Kühle in den Raum schlich. Auf den Kissen, die in unzähliger Masse unter ihnen lagen, vermischten sich die Strähnen des blauen und schwarzen Haares, während der Atem der beide die Haut der jeweils anderen streifte. Es war ein Moment, der voller Schweigen und Sehnsucht nach Nähe getränkt war. Und vom stillen der nicht genannten Wünsche. Aévyn legte das Kinn auf Clovers Brustkorb, sah sie aus grauen, aufmerksamen Augen an, in denen sich der sachte Schimmer der Straßenlaterne spiegelte.
„Was ist?“ Clover war dieser Blick nicht gänzlich unbekannt und so wartete sie mit Geduld, was ihre Freundin von ihr wollte.
„Ich wollte in den Osterferien nach Hause fliegen. Nach Neuseeland ...“
„Oh. Okay. Heißt, wir sehen uns dann zwei Wochen nicht.“
„Ich wollte dich fragen, ob du mitkommst. Ich dachte, dass du meine Familie kennen lernen könntest ….“ Die 17-Jährige zögerte. „Du musst nicht, wenn du nicht willst. Aber als ich vorhin mit meiner Mutter gesprochen habe und erzählt habe, dass ich zu dir gehe … Sie weiß ja, dass ich mich sehr oft mit dir treffe... Und da hat sie gefragt, ob du nur eine Freundin bist. Oder ob da mehr ist … Und ich habe ihr die Wahrheit gesagt. Und dann meinte sie, dass sie dich wenigstens mal kennen lernen will, wenn ich ihr schon vorenthalte, dass ich erwachsen werde.“
Clover schwieg. Blinzelte. Schwieg weiter. Blinzelte ein zweites Mal. „Nochmal bitte.“
Aévyn wiederholte ihre Worte. Erneute Stille. Dann drehte sich Clover auf die Seite, sodass die 17-Jährige sich aufrichten musste, sah sie direkt an.
„Deine Mutter will mich kennen lernen?“
Die Schwarzhaarige nickte.
„Und sie weiß aber zu 100%, dass ich kein Kerl bin?“
Wieder ein Nicken.
„Und das einzige, was sie zu der Sache zu sagen hat, ist, dass du erwachsen wirst?“
Wieder bejahte die Tialis.
Clover musterte sie. „Willst du denn, dass ich mitkomme?“
„Natürlich will ich das!“ Beinahe empört sah die Jüngere ihre Freundin an.
Clover grinste. „Dann komme ich mit … Moment ...“ Sie hielt inne. „Muss ich mich dann ...“ Sie verzog das Gesicht. „ … benehmen?“
Aévyn lachte. „Sei du selbst. Meine Mutter ist komische Menschen gewöhnt ...“
Die 21-Jährige schien erleichtert. Dann stutzte sie. „Hast du mich gerade als komisch betitelt?“ Clovers Blick verdüsterte sich. „Willst du Ärger, Schätzchen?“
„Nein?“ Aévyn machte große Augen, sprang auf, als sich Clover auf sie stürzen wollte und rannte in Richtung Küche.
„Oooooh, na warte.“ Die Blauhaarige folgte ihr auf dem Fersen.
Geschrei folgte, Japsen. Etwas ging zu Bruch. Gekicher.

Würde wohl noch eine lange Nacht werden ...