Die Geschichte von

 

A A D A N   D E M E L L E


und Elia

„Wer könnte dich jemals lieben?“


~*~



„Ich reiß dir deinen Prinzenhintern auf, du Mistkröte!“
„Versuchs doch, du Gossenkind!“

Im Nachhinein war es keine sonderlich kluge Idee gewesen, allein die Gassen Aldcrests aufzusuchen, schutzlos und ohne Diener. Sein Vater hatte ihn gewarnt. Doch wie üblich hatte Aadan nicht auf ihn gehört. Natürlich nicht. Wer war hier der Klügste? Er. Ganz klare Sache. Der Meinung war Aadan noch gewesen, als er sich aus dem väterlichen Anwesen geschlichen hatte. Eigentlich wollte er gar nicht raus. Es war nur eine Trotzreaktion gewesen. Sein Vater sagte „Nein“. Und Aadan tat es erst Recht. So hatte er sich ins Schlamassel geritten.

Eine Horde Dorfjungs. Sie hatten schnell Aadans feine Kleider ausgemacht und ihn eingekesselt. Verächtliche Blicke streiften Aadan. Der blickte ebenso verächtlich zurück. Reckte das Kinn.

„Na? Wohin des Wegs, der feine Herr?“
„Was geht’s dich an, Lumpenfetzen?“ Aadans große Klappe starb immer zuletzt. Nie konnte er still sein, wenn er es eigentlich sollte.
„Wie hast du mich genannt?“
„Hast du Dreck in den Ohren oder so?“ Der Schlag kam wie aus dem Nichts und traf Aadans Nase. Blut rann heraus. Normalerweise hätte er geheult und gejammert. Aber vor diesem Jungen, der wohl der Rädelsführer war, wollte er keine Schwäche zeigen. Also biss Aadan die Zähne zusammen.
„Deine blöden Sprüche werden dir noch vergehen“, drohte der fremde Junge unzufrieden, weil Aadan nicht schrie.
„Weißt du, wer ich bin?“, zischte Aadan. Es klang verschnupft, wegen des Bluts, das ihm die Nase verstopfte und das ihm auf die Kleider tropfte. „Ich bin der Sohn von Ignatius deMelle und er wird dich auspeitschen und hinrichten und nochmal auspeitschen lassen, wenn ich ihm erzähle, dass du mich geschlagen hast!“
„Ach ja? Wo ist er denn dein Papi?“, höhnte der Fremde jetzt. Die anderen lachten. Drohungen kamen aus dem Kreis. Beleidigungen.  „Er muss dich ja sehr lieben, wenn er dich ohne Aufpasser auf die Straße schickt. Vielleicht will er dich ja loswerden?“
Der Fremde traf einen wunden Punkt.
„Mein Vater liebt mich“, knurrte Aadan. „Ich bin sein einziger Sohn, du dreckiger Bastard!“
„Ach ja?“, schnaubte der voller Verachtung. „Du bist nur ein verwöhntes, kleines Schoßhündchen. Wer könnte dich jemals lieben?“


~*~



Obwohl Aadan alles besaß, was er sich nur wünschen konnte, war er doch niemals zufrieden. Egal, wie teuer und wie kunstvoll das Spielzeug war, Aadan war es doch nie gut genug und schnell wurde er es Leid, ließ es liegen oder machte sich einen Spaß daraus es zu zerstören, es zu vernichten bis ins kleinste Detail bis nichts mehr davon blieb als der bloße Staub und die Trümmerteile zu seinen Füßen.
Oft langweilte Aadan sich und dann blieb ihm nichts anderes zu tun, als sein Spielzeug zu zerstören. Nach draußen durfte er nicht. Eine hohe Mauer umgab das Anwesen der de Melles und barg Aadan hinter Tonnen weißen Marmors vor der Welt. Aadans Mutter war bei seiner Geburt gestorben, der Vater im Stadtrat von Aldcrest und Geschwister gab es auch keine. Im Grunde war Aadan den ganzen Tag alleine auf dem riesigen Anwesen mit den Dienstboten und seinen Zimmern voller Spielzeug und obwohl sein Vater nie müde wurde, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen, war Aadan doch undankbar und unruhig.
„Spiel mit mir“, forderte er seine Kinderfrau auf.
„Ich muss deine Sachen aufräumen“, sagte sie. „Ich habe keine Zeit.“
„Spiel mit mir, oder ich lasse dich hinrichten“, verlangte Aadan. Seufzend reichte die Kinderfrau ihm ein Holzschwert.
„Spiel damit“, sagte sie. „Geh in den Garten und tob dich aus.“



Elia kam in das väterliche Haus, als Aadan gerade neun war. Seine Mutter war Wäscherin, suchte dringend Arbeit und Aadans gutmütiger und großherziger Vater ließ sich nicht zweimal bitten. Von da an änderte sich alles. Plötzlich hatte Aadan jemanden zum Spielen, jemanden, der in seinem Alter war und der Zeit für ihn hatte.
„Spiel mit mir“, verlangte Aadan.
„Was möchtest du denn spielen?“, fragte Elia.
Aadan überlegte. „Wir können mit Steinen auf die Katze werfen. Wer trifft, gewinnt.“
„Wieso sollte ich nach einer Katze werfen?“, fragte Elia.
Aadan zuckte die Achseln. „Wieso denn nicht?“
Elia hob einen Stein auf und zeigte damit auf Aadan. „Möchtest du, dass ich damit auf dich werfe?“
Aadan verdrehte die Augen. „Nein? Natürlich nicht!“
„Glaubst du dann, dass die Katze das möchte?“
Aadan stöhnte. „Es gibt hunderte von Katzen.“
„Es gibt bestimmt auch hunderte wie dich.“
„Nein“, sagte Aadan. „Mich gibt es nur einmal. Ich bin etwas Besonders.“
„Vielleicht“, sagte Elia. „Ich will trotzdem keiner Katze weh tun.“ Er ließ den Stein fallen.

Genau wie Aadan besaß Elia nur noch einen Elternteil. Allerdings war sein Vater nicht gestorben, sondern hatte die Familie verlassen.
„Ich würde ihn bestrafen, wenn ich ihn in die Finger bekommen würde“, sagte Aadan irgendwann einmal zu Elia. „Ich würde ihn einsperren und sehr leiden lassen. Für alle Ewigkeit. Dafür, dass er mir wehgetan hat.“
Elia legte die Arme um die Beine.
„Das hat niemand verdient“, sagte er.
„Er schon“, sagte Aadan, schlang die Arme um Elias Hals und klebte sich an seinen Rücken. „Er hat dir wehgetan. Niemand darf dir wehtun.“ Elia lachte leise. Doch es war ein freundliches Lachen. Und Aadan war zufrieden.



~*~



„Ich gehe nicht ohne Elia!“ Aadan verschränkte die Arme trotzig vor der Brust. Sein Vater lächelte milde, doch Aadans Kinderfrau verzog das Gesicht.
„Aadan“, tadelte sie ihn. „Was hab ich dich über Gehorsam gelehrt?“
„Mir doch egal“, maulte Aadan. Er war fest entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Wie immer. Wenn er nur lange genug nörgelte, bekam er schon, was er wollte.
„Ach, soll er seinen Diener doch mitnehmen“, lenkte Aadans Vater bereits ein. Na, wer sagte es denn?
„Mit Verlaub“, knurrte die Kinderfrau. „Aber Aadan ist elf. Er sollte langsam lernen, dass er manche Dinge alleine tun muss. Er ist der zukünftige Lord.“
„Das hat ja noch Zeit“, sagte Aadans Vater.
Die Kindefrau funkelte Aadan wütend an. „Soll das immer so weitergehen?“, fragte sie. „Irgendwann wirst du erwachsen werden Aadan und heiraten! Willst du deinen Diener auch mit vor den Traualtar schleifen,weil du es nicht alleine kannst?“
Aadans Vater gluckste bei der Vorstellung, doch Aadan reckte trotzig das Kinn.
„Wer sagt denn, dass ich mal heirate?“
„Du wirst heiraten“, bestimmte die Kinderfrau. „Du bist der zukünftige Lord. Lords müssen heiraten.“
Aadan schnaubte. „Vielleicht heirate ich ja einfach Elia?“
Die Kinderfrau rollte die Augen. „Jetzt wirst du albern, Aadan.“
Aadan verschränkte die Arme. „Ich kann machen, was ich will“, erklärte er. „Niemand sagt mir, was ich tun soll.“
Die Kinderfrau seufzte.
„Mein Goldjunge“, lächelte sein Vater.



~*~



Das Anwesen der de Melles war von einer Mauer umgeben. Sie war hoch und breit, auf der Innenseite führte eine kleine Treppe auf die Mauerkrone, eine Krone, die breit genug war, dass man bequem nebeneinander dort sitzen konnte. Es war gerade Frühling geworden, der Frühling von Aadans letztem strahlendem Jahr.
Elia und er hatten es sich oben auf der Mauer bequem gemacht. Anfangs alberte Aadan noch herum, balancierte auf dem First entlang und schnitt Grimassen und er war sehr zufrieden, wenn er Elia ein seltenes Lachen entlocken konnte.
Elia war schon immer sehr still gewesen. Er sprach nicht viel, was Aadans Vater schon vor Jahren zu der Vermutung veranlasst hatte, er wäre wohl etwas leicht im Kopf. Doch in Elia schlummerte eine Ernsthaftigkeit und eine Klugheit, die beinahe niemand verstand und die er niemandem offenbarte, mit Ausnahme von Aadan und seiner Mutter. Aadan war stolz darauf, dass er Elia besser kannte und besser verstand, als alle Anderen. Es machte ihn zu etwas Besonderem.

Mit der Zeit hatte Aadan gelernt, Elias Schweigen zu deuten. Es gab das glückliche Schweigen, wenn er ganz ruhig dasaß, das Gesicht entspannt, einen Mundwinkel kaum merklich nach oben gezogen.

Es gab das nachdenkliche Schweigen, wenn er irgendetwas auf dem Herzen hatte. Dann erschien eine winzig kleine Furche zwischen seinen Augenbrauen, die Aadan dann anklagend antippte. „Grübelfalte“, beschwerte er sich dann. „Worüber denkst du nach?“

Es gab auch das traurige Schweigen. Das war das Schweigen, das Aadan nicht ertrug. Elias Augen waren dann dunkler, seine Brauen hatten einen anderen Schwung und es war kein verstecktes Lächeln mehr in seinem Gesicht. Wenn dieses Schweigen kam, dann tat Aadan alles, um ihn aufzuheitern. Er schnitt Grimassen, tanzte vor ihm herum, erzählte alle lustigen Geschichten, die ihm einfielen und wenn gar nichts mehr half, dann klebte er sich an Elias Rücken und drohte ihm, erst wieder loszulassen, wenn er anfing zu lächeln. Das wirkte meistens. Irgendwann schmunzelte Elia dann, seine Nase stupste gegen Aadans Wange und die Welt war wieder in Ordnung

Vor Kurzem war Aadan dreizehn geworden. Sein Vater hatte ihm ein eigenes Pferd geschenkt. Als Aadan herausfand, dass man es pflegen musste und dass Reiten nicht so mir nichts, dir nichts funktionierte, verlor er die Lust an dem Tier.

Aadan hatte sich zurückgelehnt, sich auf den Rücken gelegt und ganz ausgestreckt. Irgendwann lag Elia neben ihm.
„Und? Wie willst du das Pferd nennen?“
Aadan rollte die Augen.
„Doofnase.“
Elia kicherte. „Das hört sich aber seltsam an, wenn du es auf dem Marktplatz zu dir rufst.“ Er verstellte seine Stimme. „He, Doofnase, hierher. Komm zum Goldjungen.“
Verstimmt verzog Aadan das Gesicht. „Du bist doof“, sagte er.
Elia störte die Beleidigung nicht. Mit ein Grund, wieso er es schon seit drei Jahren mit Aadan aushielt. Er streckte einen Finger aus und stupste gegen Aadans Nasenspitze
„Also?“, wiederholte er seine Frage. „Wie soll es denn heißen?“
„Keine Ahnung.“
„Na, dann denk nach.“
„Ich denk doch schon!“ Wieder tippte Elias Finger gegen seine Nasenspitze.
„Wie wärs mit Goldjunge?“
Jetzt verzog Aadan das Gesicht. „Der Name ist dumm“, sagte er.
„Und er passt nicht mal zu dir.“ Elia schnippte gegen eine von Aadans struppigen schwarzen Haarsträhnen. „Du bist nicht blond. Dein Vater sollte dich Raben-Aadan nennen.“ Aadan musste grinsen. Raben-Aadan gefiel ihm sehr viel besser als Goldjunge.
„Hat deine Mutter keinen bescheuerten Spitznamen für dich? Wie nennt sie dich denn immer?“
„Elia.“
„Nur Elia?“
„Nur Elia.“
Aadan schwieg und dachte nach. „Ich mag den Namen“, sagte er. „Deswegen muss das Pferd einen anderen kriegen. Das Pferd nervt.“
„Ach, das Pferd nervt dich?“, spottete Elia. „Und ich tue das nicht?“
Aadan schüttelte den Kopf. „Dich muss ich nicht füttern, ich muss nicht hinter die ausmisten und du wirfst mich nicht von dir runter.“ Er grübelte. „Du trittst mich nicht. Deine Haare sind weicher. Und du läufst nicht einfach weg, wenn ich dich loslasse.“ Er drehte den Kopf ganz zu Elia herüber. „Das stimmt doch, oder? Du gehst nicht einfach weg? Du bleibst immer bei mir, richtig?“
Elia schwieg. Doch dann nickte er langsam. „Solange ich es kann“, sagte er.



~*~



Aadans Vater war ein allseits beliebter Mann, denn er war mildtätig und freigiebig und im Dorf bekannt. Auch die Oberschicht schätzte ihn wegen seiner Feiern und wenn Aadans Vater einlud, dann kam man aus den umliegenden Dörfern und Weilern aus den Adelssitzen in sein Haus hinter die große Mauer. Die Mauer, die Aadan nie verlassen durfte. Eigentlich wollte Aadan auch heute zur Mauer entwischen, um von dort oben aus zusammen mit Elia die Gäste zu beobachten und auszulachen. Beim letzten Mal hatte Elia eine der Damen mit ihrem Pudel nachgemacht. Vor Lachen wären beide Jungen fast von der Mauer gefallen.

Doch dieses Mal erwischte ihn die Kinderfrau und gnadenlos zerrte sie Aadan ins Innere.
„Ich will aber nicht“, stöhnte der. „Ich will raus zu Elia.“
„Du wirst es einen Abend ohne deinen Diener überleben“, knurrte die. „Ihr zwei klebt sowieso viel  zu oft aufeinander.“
„Wieso nennst du ihn immer Diener?“, schimpfte Aadan. „Elia ist mein Freund!“
„Adelssöhne befreunden sich nicht mit Dienern.“ Die Kinderfrau begann Aadans widerspenstiges schwarzes Haar zu ordnen.
„Er ist nicht mein Diener.“
Die Kinderfrau seufzte. Dann gab sie sich einen Ruck, nahm Aadan bei den Schultern und drehte ihn herum.
„Elia ist dein Diener, Aadan. Er wird dafür bezahlt, dass er Zeit mit dir verbringt. Was er tut, das ist seine Aufgabe.“
Aadan schluckte.
„So ein Mist.“
„Es ist wahr“, sagte die Kinderfrau ernst. „Du musst langsam begreifen, Aadan, dass du dich nicht immer vor der Welt der Pflichten verstecken kannst. Es ist Zeit, dass du erwachsen wirst.“
Aadan schüttelte den Kopf. „Es ist nicht wahr!“
Die Kinderfrau klopfte Aadan mitleidig auf die Schulter. „Das ist es“, sagte sie. „Und das weißt du auch. Du bist kein dummer Junge.“
„Du lügst“, fauchte Aadan. Er wand sich los.
Die Kinderfrau seufzte erneut. „Geh“, forderte sie ihn auf. „Frag ihn. Dann wirst du sehen, dass ich Recht habe. Dein Vater gibt ihm Geld, damit er mit dir spielt und dich beschäftigt.“
„Ich glaube dir nicht“, schrie Aadan sie an. Dann drehte er sich um und rannte aus dem Zimmer.



~*~



Elia saß oben auf der Mauer. Den ganzen Abend hatte Aadan sich vor ihm verborgen. Er war nicht zum Fest erschienen. Niemand hatte ihn vermisst. Das tat umso mehr weh. Der einzige, der ihn wohl vermisst hatte und der auf ihn wartete war Elia. Oben auf der Mauer.
Nicht auf ihn, berichtigte sich Aadan. Sondern auf das Geld.
Es war schon dunkel. Die Lichter der Stadt unter ihnen und die des Hauses in ihrem Rücken waren die einzige Beleuchtung. Aadan verharrte auf den Stufen. Er wusste nicht, was er wollte. Wollte er nach oben gehen? Elia anschreien? Ihn von der Mauer stoßen und zusehen, wie sein verräterischer Körper unten auf den Steinen aufkam? Oder wollte er sich einfach umdrehen und weglaufen? Sich verkriechen, so wie er es den ganzen Abend getan hatte? In Aadan kämpfte es.
Vielleicht hatte er einen Laut von sich gegeben, vielleicht war es aber auch seine Anwesenheit, die Elia spürte, denn plötzlich hob er den Kopf, drehte sich halb um und blickte zu Aadan, der in den Schatten auf der Treppe stand.
„Aadan.“
Aadan reagierte nicht. Wenn er jetzt weglief, konnte er es schaffen. Elia war schneller als er. Aber Aadan war flinker. Er konnte ihm entkommen.
„Aadan, was ist los?“ Elia kletterte von der Mauer und kam auf den Stufen auf. Er kam Aadan entgegen und verharrte dann vor ihm. Skeptisch betrachtete er ihn von oben bis unten.
„Was ist los?“, wiederholte er.

In seinem Kopf hatte sich Aadan eine richtige Rede zurecht gelegt. Eine wütende und berauschende Rede, die den Verräter mit Donnerstimme von sich schmetterte. Stattdessen entwickelte sein Mundwerk ein Eigenleben.
„Stimmt das, dass mein Vater dich bezahlt?“, platze  Aadan heraus. „Stimmt es, dass du Geld bekommt, damit du mein Freund bist?“ Es hätte wütend klingen sollen. Wieso nur hörte er sich so verzweifelt an? Aadan kniff die Lippen zusammen.
Elia nickte. Selbst in der Dunkelheit konnte Aadan es sehen „Dein Vater gibt meiner Mutter Geld, weil ich Zeit mit dir verbringe.“
Aadan schluckte. Er leugnete es nicht mal. Er sprach ganz ruhig. So als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Aadan trat einen Schritt zurück.
„Das ist es also? Die ganze Zeit? Du bist also nur mein Freund, damit ihr Geld bekommt?“
Elia schüttelte wieder den Kopf. „Nein“, sagte er. „Dein Vater gibt meiner Mutter Geld. Aber nicht damit ich dein Freund bin, sondern weil ich dein Freund bin. Und ich bin dein Freund, weil ich es will.“
„Ach ja?“, fauchte Aadan. „Und wieso willst du das?“
„Weil ich dich mag“, sagte Elia.
Aadan wusste nicht mehr, was er sagen sollte. All die Wut und die Verzweiflung hatten sich in seiner Brust verknotet. Doch er musste nichts mehr sagen. Elia trat zu Aadan auf die Stufe und nahm ihn in den Arm. Eine ganze Weile hielt er Aadan fest, während im Dorf unten nach und nach die Lichter erloschen und es kalt wurde.
„Ich mag dich auch“, sagte Aadan leise.



~*~



„Ihr lügt doch alle! Elia würde das nie tun! Er würde nie ohne mich gehen!“

Lichter funkelten und Stimmengewirr erfüllte den Raum. Die Luft war dank der weit geöffneten Fenster frisch und warm und wenn man genau hinhörte, konnte man über dem Lachen der Feiernden die Vögel im Garten zwitschern hören, die den herannahenden Abend begrüßten. Es war bereits dämmrig draußen, die Kerzen und Fackeln erhellten die den großen Saal der weißen Villa und die Stimmung unter den teils recht beleibten Herren und Damen war fröhlich und unbeschwert. Selbst Aadan, der solche großen Feierlichkeiten hasste, strahlte voller Tatendrang und war die letzte halbe Stunde zwischen den Gästen hin und her geflitzt. Das hatte den Effekt, dass er als einer der Wenigen noch ein Stück Mandeltorte hatte abstauben können und hockte nun mit zufriedenem Gesicht mit seiner Beute in einer Fensteröffnung.
„Möchtest du wirklich nicht?“
Elia ihm gegenüber schüttelte mit einem sanften Lächeln den Kopf.
„Nein, danke“, antwortete er ruhig. „Ist alles deins.“ Aadan zuckte die Achseln.
„Selbst Schuld“, grinste er. „Du weißt ja gar nicht, was du verpasst.“ Elia beließ es bei einem Schmunzeln und streckte die langen Beine aus.

Obwohl Aadans Vater es nicht gerne sah, hatten es sich beide Jungen auf dem geweißelten Brett des Fensters bequem gemacht, halb im Raum der Feiernden, mit dem anderen Bein draußen im Garten, genossen noch die letzten Strahlen der Sonne und die Wärme auf den Steinen und lange würde es sie wohl auch nicht mehr im Saal halten, zumindest Aadan nicht. Bereits jetzt zappelte er herum, während sein Freund ruhig, fast schon abwesend dasaß, den Kopf an den hellen Stein gelehn.
Aadan musterte ihn skeptisch, eher er ihn mit schief gelegten Kopf ansprach:
„Elia?“

Vor einem knappen Monat war ein Bote für Elias Mutter gekommen. Er war von einer feinen älteren Dame gesandt worden, die ihm einen freundlichen Brief mitgegeben hatte. Elias Vater war gestorben. Seine Familie besaß ein kleines Haus in Schottland. Er hinterließ keine Erben mit Ausnahme von Elia und seiner Mutter. Nun bat die Großmutter in ihrem Brief darum, dass Elia seine Mutter sie besuchen kamen. Sie wollte ihren Enkel kennen lernen, das letzte was von ihrem Sohn geblieben war.
Elias Mutter hatte lange mit sich gehadert. Doch eigentlich wollte sie das Angebot nicht ausschlagen.
„Wir könnten ein richtiges Leben dort haben, Elia“, sagte sie. „Stell dir das Mal vor, keine Knochenarbeit mehr, ein richtiges Bett, einen Ofen.“
Aadan hatte nur stumm die Lippen zusammengebissen.
„Noch ist ja nichts entschieden“, tröstete Elia Aadan. Doch Aadan hatte ein ungutes Gefühl. Wenn Elia gehen würde, dann würde er nicht wiederkommen.

„Elia!“ Sein Freund schreckte auf. Hatte er geschlafen? Misstrauisch betrachtete Aadan ihn. Doch er erntete ein warmes Lächeln und Elia richtete sich auf.
„Alles gut“, versprach er.

Aadans Strategie war die Ablenkung, die auch eigentlich immer gut funktioniert hatte.
„Hey, wer als erster draußen ist!“ Aadan stürmte los und stellte befriedigt fest, dass Elia ihm folgte. Er sprintete über einen Treppensturz, hastete den Gang entlang, wobei er fast einen Diener umstieß und erreichte als erster den Garten. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Elia ihn gewinnen ließ. Doch heute war es anders. Als Elia nach ihm den Garten erreichte, war er blass und rang nach Atem. Auf Aadans besorgten Blick hin, winkte er ab.
„Alles gut, Aadan, ich bin drinnen gestolpert.“ Aadan glaubte ihm nicht wirklich. Elia ließ sich auf eine der weißen Stufen vor der Türschwelle sinken und Aadan hüpfte neben ihn. Es dauerte eine Weile, bis Elia wieder atmen konnte. Doch dann lehnte er sich lächelnd gegen den Kleineren und Aadan grinste erleichtert.
„Hey, wollen wir morgen auf den Dachboden steigen?“, fragte Aadan und bohrte seinen Zeigefinger in Elias Knie.
Elia nickte an seiner Schulter. Eine Weile blieb es still. Dann richtete sich Elia ein Stück auf.
„Aadan...“, begann er leise.
„Was?“
Elia zögerte, dann schüttelte er den Kopf. „Vergiss es“, sagte er. „Nicht so wichtig.“

Am nächsten Morgen wartete Aadan vergebens auf Elia. Erst hibbelte er ungeduldig auf der Treppe herum, dann, nach einer Weile, lief er nach draußen auf die Mauer. Von Elia keine Spur. Aadan wurde ärgerlich. Was sollte das? Hatte er es vergessen?

Sein Vater hielt ihn auf halbem Weg zu Elias zu Hause auf.
„Aadan, Goldkind, warte.“
„Ich hab jetzt keine Zeit!“
Sein Vater hielt ihn fest. „Elia ist nicht hier“, sagte er. „Seine Mutter ist gestern Abend mit ihm abgereist.“



~*~



Aadan hatte geschrien und getobt. Er hatte seinen Vater angeblafft und dann die Kinderfrau. Er hatte sich losgerissen und war zu Elias kleinem zu Hause gelaufen, der Hütte an der Mauer. Niemand war dort. Aadan hatte geweint. Er hatte sich auf den Boden geworfen, gegen die Wand in seinem Zimmer eingeschlagen und in sein Kissen geschluchzt. Elia blieb verschwunden.
„Er würde mich nie verlassen“, versicherte Aadan seinem Vater.
„Elia würde nicht ohne mich gehen“, erklärter er der Kinderfrau.
„Er soll wieder herkommen“, sagte er zu dem Kissen.

Es war wie es war. Elia war gegangen und hatte Aadan zurückgelassen. Zwei Tage verließ Aadan sein Zimmer nicht. Essen schlug er aus. Erst am dritten Tag erschien er wieder im Haus. Lustlos, ruhelos und unruhig. Nach dem Essen verließ er das Haus.
„Wo gehst du hin?“, wollte die Kinderfrau wissen.
„Auf die Mauer“, sagte Aadan. „Ich warte auf Elia.“

Aadan war der festen Überzeugung, dass Elia wiederkommen würde. Er blieb den ganzen Tag dort oben auf ihrem gemeinsamen Platz und kehrte erst zurück als es dunkel war.
Sobald es hell wurde, war Aadan wieder zurück. Sein Vater versuchte, ihn aufzuhalten.
„Es ist zu windig“, sagte er. „Es wird Herbst.“
„Ich habe einen Schal.“
„Eine Pest geht um.“
„Pest kriegen nur arme Leute. Ich bin hinter der Mauer. Ich bin geschützt.“
Seufzend ließ der Vater Aadan gehen.

Am späten Abend stieg Aadan von der Mauer. Er war rastlos. Trotz des Verbotes schlüpfte er durch das Tor in der Mauer. Wohin er wollte, wusste er nicht. Erst als ihn seine Schritte in eine Gasse trugen, erinnerte er sich, wo er war. Elia hatte früher hier gewohnt, bevor seine Mutter und er zu Aadans Familie gezogen waren. Hinter die Mauer.
In einem Fenster brannte eine Kerze. Andere Menschen wohnten jetzt in dem kleinen Haus. Müde ließ sich Aadan gegen die Tür fallen. Es gab ein Wummern. Im Inneren erklangen Schritte. Es war Aadan egal. Knarrend ging die Tür auf. Auge in Auge fand sich Aadan mit Elias Mutter wieder. Sie blickte ihn traurig an.
„Unglücklicher Junge“, sagte sie leise. „Du hättest nicht herkommen sollen.“



~*~




Aadan hatte nicht gewusst, dass der Tod einen Geruch hatte. Es war dunkel in dem Zimmer, es roch nach Krankheit, Erbrochenem und Schweiß. Und noch etwas Anderes war da in der Luft. Ein Geruch, der Aadan sagte, dass jemand starb.
Erst war Aadan wütend geworden. Seine Verwirrung und sein Schock waren in Wut umgeschlagen. Wer wollte ihn denn hier betrügen? Was sollte das? Doch dann trat Elias Mutter zur Seite und gab wortlos den Weg frei. Danach waren alle Gefühle aus Aadan verschwunden. Mit einem Mal waren sie einfach weg, waren aus ihm gewichen. Zurück blieb nur ein Nichts. Eine Ödnis.

Elia lag ausgestreckt auf dem kleinen Bett. Nein, nicht Elia. Nur sein Körper. Alles, was einmal Elia gewesen war, war verschwunden. Das dunkle Oliv seiner Haut war nur noch ein fahles weiß-gelb, überzogen von einem dünner Schicht schimmernden Glanzes, seine Lippen waren farblos geworden, seine Augen stachen grausam aus dem Gesicht heraus, in tiefen Höhlen liegend, verklebt und voller Schmerz. Seine Gliedmaßen waren verkrampft, seine Hände nur eine Klaue und das braune Haar war feucht von Schweiß, als wäre er unter Wasser getaucht.

Tonlos ging Aadan neben dem Lager in die Hocke, obwohl ihn der Geruch ekelte. Es war ein Gedanke, der ihn nach unten zwang und der seine Hand führte. Er hat mich nie verlassen, dachte Aadan. Er ist nie weggegangen. Vorsichtig beugte sich Aadan herunter und legte die Wange an Elias. So oft hatten sie so nebeneinander gelegen.
Elia sprach kein Wort. Vermutlich konnte er es auch nicht mehr. Stattdessen gruben sich sachte tastend seine Finger in Aadans schwarzen Haarschopf und verflochten sich in die Strähnen seines Nackens. In diesem Moment war Aadan der Geruch egal. Er spürte ihn nicht mehr. Langsam, um den Kontakt zu den kraftlosen Fingern nicht zu verlieren, ließ sich Aadan herabsinken, legte den Kopf auf die verschwitzte Brust und schloss die Augen. Er konnte spüren, wie sich der Brustkorb schwach hob und senkte. Er hörte das Rasseln unter der Haut, als würde jemand mit einem Halm unter Wasser Blasen werfen.
Aadan legte seine Hand in Elias. Die Finger zuckten kaum und Aadan schlang sich in seine Hand, hielt sie fest, so wie die Hand ihn früher gehalten hatte. Auf der Mauer, jeden Tag, wenn er balancierte und drohte zu fallen. Wenn er auf einen Baum klettern wollte, der viel zu hoch für ihn war. Oder wenn er das Treppengeländer herunterrutschen wollte, ohne sich den Hals zu brechen.
„Du wirst wieder gesund“, versprach Aadan ihm. „Ich bin jetzt da. Du wirst wieder gesund.“ Wenn Elia ihn hörte, dann antwortete er nicht. Aadan spürte das schwache Gewicht des Kinns auf seinem Kopf, die kaum merkliche Bewegung der Finger in seinen Haaren und lauschte auf das Rasseln unter sich.
Aadan schlief ein, den Kopf auf Elias Brust. Sein letzte Gedanke war, wie warm Elia doch war.

Als Aadan erwachte, war Elias Brust kalt. Auch das Rasseln war verschwunden.



~*~



Barfuß schritt Aadan auf das Podest. Es war windig heute. Frisch. Ist wohl der Winter, sagte er sich.
„Aadan deMelle, Sohn von Ignatius deMelle, ist schuldig gesprochen in drei Fällen von Unzucht, Mord und Leichenschändung, worauf als Strafmaß der Tod steht, ausgeführt durch seine Würdigkeit, den Scharfrichter, durch Enthauptung.“
Aadan war es wirklich ziemlich schnuppe. Dafür, dass er gleich sterben sollte, hatte er erschreckend wenig Angst. Neugierig streifte sein Blick über die Menge. Sie alle waren gekommen. Auch die kleine Ratte, die ihn verraten hatte. Dreckiger Bastard. Nun ja, er hatte Glück gehabt. Eine Fliege summte vorbei.
„Es steht dem Verurteilten frei, nun seine letzten Worte zu sprechen, bevor das Urteil vollstreckt wird.“
„Fahrt zur Hölle“, murmelte Aadan.

Sechs Jahre war es her, dass sein Vater ihn betrogen hatte und ihn in dem Glauben gelassen hatte, Aadan wäre verlassen worden. Sechs Jahre. Aadan war zu einem hübschen jungen Mann herangewachsen.

„Ihr müsst lauter sprechen, deMelle, wenn Ihr etwas zu sagen habt.“ Aadan schwieg, blickte böse in die Menge.

Einige Jahre war es gut gegangen. Dann starb Aadans Kinderfrau. Er hatte sie nicht geliebt, doch hatte sie zu ihm gestanden in all der Zeit. Oder war zumindest da gewesen. Als sie starb, flammte irgendetwas in Aadans Kopf auf. Es war nicht gerecht. Nicht so.

„Kniet nieder.“ Aadan kam auf den rauen Planken auf, er spürte das Holz des Blocks an seiner Wange. Es war verfärbt, eingetrocknete Schlieren. Aus dem Augenwinkel untersuchte er noch einmal die Menge. Sein Vater war nicht erschienen. Nicht dass es Aadan scherte. Nein. Sicher nicht. Den Goldjungen gab es nicht mehr. Jetzt war er Aadan, der Perversling. Aadan, der Mörder. Gut so. Das war er schon immer gewesen. Aadan, der Rabe. Der Todesbringer.
Jemand schlug eine Trommel. Wieso ging sein Atem plötzlich schneller? War das eine Träne auf seiner Wange? Nein, er weinte nicht. Aadan, der Rabe, weinte nicht.

Die Sache mit der Gasse fiel Aadan ein, wie aus dem Nichts. So lange war es nun schon her. In einem anderen Leben, ein Leben, das ein Lachen ohne Häme zuließ. Er war von zu Hause weggelaufen. War in eine Horde Straßenjungen gelaufen.

Abweisende Gesichter. Eine Masse aus abweisenden Gesichtern blickte zu Aadan auf. Voller Verachtung. Genau wie der Junge. „Wer könnte dich jemals lieben?“, hatte er gefaucht. Aadan hatte geschluckt. Hatte für einen Moment das Gesicht verloren. Doch dann hatte sich eine Hand auf seine Schulter gelegt. „Ich kann es“, sagte Elia und trat vor Aadan.

Die Masse verschwamm. Alles wurde eins. Aadan sah weder die Menge noch das blitzende Metall der Axt. Er spürte nicht mehr die rauen Holzplanken unter seinen Knien und auch nicht den Block, auf den er seine Wange presste. Alles schien im Nebel zu verschwinden. Und über die Menge hinweg, glaubte er Elia zu sehen.
Komm, sagte er und streckte die Hand aus. Dann sauste das Beil herab und Elias Vision verschwand.